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Ausgedünnte Kliniklandschaft


"Wir saufen ab!" lautete das Motto der Kliniken in Mecklenburg-Vorpommern bei dem Protesttag am 20. September 2023. Foto: Landeskrankenhausgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern

Dr. Jens Placke würde Karl Lauterbach (SPD) gerne zu einer Landpartie einladen. Der Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie sowie Präsident der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern würde mit dem Bundesgesundheitsminister in die nördliche Hansestadt Demmin fahren, eine Kleinstadt im östlichen Mecklenburg-Vorpommern und danach nach Neustrelitz und nach Pasewalk. Verbindet man diese drei Kleinstädte zu einem Dreieck dann fällt auf, dass es dort viel Landschaft, aber nur wenige Kliniken oder niedergelassene Ärzte gibt. Wird das geringe stationäre medizinische Angebot, zum Beispiel die Chirurgie, noch mehr reduziert und auf noch weniger Standorte konzentriert, wie der Bundesgesundheitsminister favorisiert, dann müssten die Patienten mit einem komplizierten Armbruch oder einem Darmriss unter Umständen bis nach Rostock oder Greifswald in eine der beiden Universitätskliniken fahren, um dort die medizinische Versorgung zu bekommen, die sie brauchen. „Das wird desaströs“, prophezeit Dr. Jens Placke mit Blick auf die anstehende Krankenhausreform des Bundesgesundheitsministeriums (BMG). Diese setzt unter anderem auf eine Konzentration der stationären Leistungen.

„In Nordrhein-Westfalen, wo Herr Lauterbach herkommt, ist die Welt eine andere. Wenn man dort auf der Straße umfällt, dann hängt es wahrscheinlich davon ab, ob man nach rechts oder nach links umgefallen ist, in welches Krankenhaus der Rettungsdienst einen bringt. Dort sind in Wurfweite ganz viele Krankenhäuser, wenn man in einer Metropole ist. Hier in Mecklenburg-Vorpommern brauchen wir die regionalen Krankenhäuser als Anlaufstationen. Unsere Struktur ist schon so rationiert, sodass ein Weniger nicht funktionieren wird“, sagt Dr. Placke.

Was der Kammerpräsident meint, ist der Strukturprozess, der in den ostdeutschen Bundesländern schon direkt nach der Wende stattgefunden hat. „1990 haben die Landkreise lernen müssen wirtschaftlich zu arbeiten. Finanziert ein Landkreis ein defizitäres Krankenhaus? Diese Frage wurde im Osten viel deutlicher mit einem Nein beantwortet als in den alten Bundesländern“, erinnert sich Uwe Borchmann, Geschäftsführer der Krankenhausgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern (KGMV). So kam es frühzeitig zu Klinikschließungen und zu vielen Privatisierungsentscheidungen. „Deshalb hat Mecklenburg-Vorpommern einen der höchsten Anteile privater Krankenhausträger und einen der geringsten Anteile in kommunaler Trägerschaft“, sagt Borchmann. Angesichts dessen, dass die Kliniken bundesweit unter sinkenden Einnahmen, aber steigenden Kosten leiden, wirkt sich dies verschärfend besonders in Mecklenburg-Vorpommern aus, aufgrund der besonderen Trägerstruktur. Während kommunale Träger Defizite eher kompensieren können, ist dies für freigemeinnützigen oder kleinen privaten Trägern ungleich schwerer. In Mecklenburg-Vorpommern hat eine Klinik in privater und kommunaler Trägerschaft in Bützow bereits Insolvenz angemeldet. Weitere könnten folgen. Borchmann sagt: „Wenn bei uns von 37 Kliniken eine aufgibt, dann ist das viel dramatischer, als wenn acht Kliniken in NRW oder drei im Saarland aufgeben.“

Die Zahl der Klinikstandorte nahm in dem nördlichen Bundesland bereits rapide ab. Am 1. Januar 1990 gab es insgesamt 55 Kliniken mit 18 915 Betten. Am 31. Dezember 2021 waren es noch 37 Kliniken (mit 39 Standorten) mit 10 213 Betten, darunter auch viele neu hinzugekommene psychiatrische Einrichtungen. Salopp formuliert hat Mecklenburg-Vorpommern schon eine gewaltige „Abspeckkur“ hinter sich. Bereits jetzt gebe es Regionen, wo man fast eine Stunde unterwegs ist, um eine Kinderklinik zu erreichen, sagt Borchmann. Ein politisch verordnetes „Weniger“ an Standorten sei in dem norddeutschen Bundesland daher kein „Mehr“, sondern lebensbedrohlich. „Da ist kein Optimierungspotenzial in Mecklenburg-Vorpommern“, sagt auch Kammerpräsident Dr. Placke. Er sieht vor allem die „hohe Qualität der Versorgung in den kleinen Krankenhäusern gefährdet“.

„Wir müssen für jeden Bürger sicherstellen, dass er in 30 Minuten eine Intensiveinheit mit Beatmungsgeräten erreichen kann und stationär notfallmäßig erstversorgt wird. Das ist die Zielstellung der Krankenhausgesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern“, sagt Borchmann und weiter „sie steht auch einer Zentralisierung seltener Leistungen nicht im Weg – wenn sie richtig gemacht wird.“

Geschrumpft sind im Laufe der Jahre auch die Investitionen, die das Land M-V in seine 37 Krankenhäuser steckt. Stellte die Landesregierung den Kliniken im Jahr 2002 noch 118 Mio. € zur Verfügung, waren es im Jahr 2022 noch 53 Mio. €. Borchmann beziffert den jährlichen Investitionsbedarf der Kliniken auf einen dreimal so hohen Betrag, ohne dass dabei Transformationsmittel für die Krankenhausreform eingerechnet wären.

Nicht berücksichtigt werde bei einer bundesweiten Krankenhausplanung zudem die spezifische Inselbesonderheit Mecklenburg-Vorpommerns: Auf Usedom, Rügen und dem Darß aber auch an der Seenplatte komme es saisonal bedingt zu hohen Urlauberzahlen und somit auch zu einem größeren Patientenaufkommen. Auch diese Patienten benötigen eine medizinische Versorgung.

Eine weitere Sorge steht im Raum. Werden Krankenhäuser in ihrem Fächerkanon heruntergestuft und müssen sie Leistungen an andere Kliniken abgeben, wird es weniger Weiterbildungskapazitäten an diesen reduzierten Standorten geben. Wie bleiben diese Kliniken dann noch für Chefärzte, Ärzte in Weiterbildung oder angehende Ärzte attraktiv? Freie Klinikstellen zu besetzen könnte dann noch schwieriger werden. Borchmann: „Uns fehlen jetzt schon Ärzte im dreistelligen Bereich, Pflege und andere pflegenahe Berufe fehlen im vierstelligen Bereich.“

Große Attraktivität genießt das Bundesland an der Ostsee bei angehenden Medizinern. Insgesamt 400 Studenten studieren an den beiden Universitäten in Greifswald und Rostock Medizin. Beim Ranking zum ersten Staatsexamen rangiert die Universität Rostock gleich hinter Heidelberg auf Platz zwei, sagt Dr. Placke. Das sei ein „hervorragendes Ergebnis“, freut sich der Ärztekammerpräsident. Aber leider ziehen die jungen Mediziner nach ihrer Ausbildung auch wieder weg. „Wir bilden quasi für andere Bundesländer aus. Das schmerzt“, sagt Dr. Placke.

Als Bundesgesundheitsminister Lauterbach seine Klinikreform ankündigte, sprach er von einer Revolution. In Mecklenburg-Vorpommern sprechen Klinikexperten inzwischen von einem Untergang, der schon vor der Revolution kommen wird und welchen sie auch demonstrativ in Szene setzen. Beim bundesweiten Protesttag der Kliniken am 20. September 2023 versenkten sie eine Klinik in Form eines großen Pappkonstrukts demonstrativ im Schweriner See vor dem Regierungssitz der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern. Das Motto: „Wir saufen ab! Krankenhäusern in MV droht die Pleite - Patientenversorgung gefährdet!“ Dazu sagt Borchmann „Es muss zuerst gelingen, dass alle Krankenhäuser die Reform erleben. Während des Reformprozesses können die notwendigen Verschiebungen ausgewählter Leistungsgruppen erfolgen, wenn geklärt ist, wie der regionale Krankenhausstandort dabei finanziert wird, die Ausbildung von Ärzten weiterhin möglich ist und wie die höheren Strukturvoraussetzungen an den Maximalversorgern investiv ermöglicht werden.“

Die Gesundheitsministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Stefanie Drese (SPD) vertritt die Interessen der ostdeutschen Bundesländer in der Redaktionsgruppe von Bund und Ländern zur Erarbeitung des Gesetzentwurfes zur Klinikreform des Bundes. Drese sagt: „Allein der Umstand, dass es eine ostdeutsche Beteiligung an der Redaktionsgruppe gibt, ist schon eine Besonderheit. Von daher habe ich auch das Gefühl, dass wir sehr ernst genommen werden“. In Ostdeutschland gebe es eine „ausgedünnte Krankenhausstruktur“, die erhalten bleiben müsse, versichert sie, „damit die stationäre Versorgung für die Bevölkerung gewährleistet ist“. Auch Drese betont, Mecklenburg-Vorpommern könne auf keinen seiner Klinikstandorte verzichten.

Tanja Kotlorz