Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziel, während andere uns helfen diese Website und ihre Erfahrung zu verbessern.

Thema des Monats

Thema: Innovation und Technik


Dr. Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed)


Natalie Gladkov, Referentin Digitale Medizinprodukte des Bundesverbandes Medizintechnologie. Fotos: BVMe

Die Krankenhäuser leiden schwer an der derzeitigen Krise. Welche Auswirkungen haben Inflation und Wirtschaftskrise auf die Medizintechnik-Branche?

Marc-Pierre Möll: Auch wir spüren erhebliche Auswirkungen. Die Bewältigung der Covid-19-Pandemie und der Folgen des russischen Krieges gegen die Ukraine haben die globalen Lieferketten und die Herstellungskosten stark beeinträchtigt. Die Medizintechnik-Branche kämpft mit steigenden Kosten für Energie, Logistik und Rohstoffe. Dazu kommen Inflation und steigende Arbeitskosten. Und, dass in einer Zeit, in der die Branche mit der schwierigen Umsetzung der neuen EU-Medizinprodukteverordnung – kurz: MDR – erheblich belastet ist. Dazu dann noch die neuen Regularien in Folge des Green Deals auf EU-Ebene sowie der digitale Wandel. Das ist eine Zeit großer Herausforderungen für die Medizintechnik und die Krankenhäuser gleichermaßen.

Welche Veränderungen erwarten Sie in den kommenden Jahren für Ihre Branche?

Marc-Pierre Möll: Wenn die Politik nicht konsequenter gegensteuert, werden durch die MDR viele kleinere MedTech-Unternehmen vom Markt verschwinden. Der bürokratische Aufwand ist einfach zu groß, um beispielsweise Bestands- oder Nischenprodukte auf dem Markt zu halten. Unsere Herbstumfrage 2022 zeigt: Die Innovationsdynamik der Medizintechnik-Branche leidet schon jetzt dramatisch. 93 Prozent unserer Unternehmen sind klein und mittelständisch. Sie sind das Herzstück der Branche und der Fortschrittsmotor, der aber derzeit in Europa massiv abgewürgt wird. Innovationen wandern mehr und mehr in die USA. Das müssen wir verhindern.

Es ist deshalb gut, dass sich das Bundeswirtschaftsministerium jetzt mit der Gesundheitswirtschaft an einen Tisch setzt und die Herausforderungen strategisch angeht und Lösungen unter Einbindung der Expertise der Unternehmen entwickelt. Im Kern geht es um drei Themenbereiche. Erstens: Die Stärkung des MedTech-Standortes Deutschland in Richtung einer strategischen Resilienz. Zweitens: Der Erhalt der Innovationskraft durch Abbau des hohen Bürokratie- und Kostendrucks sowie durch Nutzung von Gesundheitsdaten. Drittens: Die Schaffung eines klimagerechten Gesundheitswesens im Rahmen einer Nachhaltigkeitsstrategie. Das sind die Herausforderungen der Zukunft. Das Gespräch zur Gesundheitswirtschaft ist ein guter erster Schritt. Aber wir brauchen danach konkrete Taten, um den MedTech-Standort Deutschland zu stärken – und das schnell. Deutschland braucht eine forschungsstarke, leistungsfähige, wirtschaftlich gesunde und international wettbewerbsfähige Medizintechnik-Branche.

Und für die Klinikbranche?

Marc-Pierre Möll: Ich bin kein Sprecher für den Klinikmarkt, aber die Krankenhäuser in Deutschland stehen sicherlich ebenfalls vor dramatischen Herausforderungen und Umbrüchen. Wir werden eine noch stärkere Zentrenbildung bei den sehr komplexen und hochtechnischen Lösungen sehen. Viel wichtiger ist mir aber, eine Diskussion darüber zu führen, wie wir die Qualität der Versorgung verbessern können und unsere Investitionen in das Gesundheitssystem stärker an den Ergebnissen auszurichten. Der Einsatz von Innovationen der Medizintechnologie wird oft dadurch erschwert, dass die meist höheren Initialkosten isoliert betrachtet werden, nicht jedoch die Nutzen- und Kosteneffekte über den Gesamtverlauf einer Behandlung oder Krankheit. Deshalb müssen die langfristigen Einsparpotenziale durch moderne MedTech-Verfahren in die Überlegungen und in die Kostenübernahme medizintechnologischer Produkte einbezogen werden. Der BVMed wirbt deshalb für eine „Gesamtbetrachtung von Behandlungsprozessen”. Das nennen wir „Value-based Healthcare“.

Der Innovationdruck in den Kliniken ist hoch. Können sich die Krankenhäuser moderne Medizintechnik noch leisten?

Marc-Pierre Möll: Moderne Medizintechnologien und medizintechnische Geräte haben das Potenzial, Prozessabläufe in der Patientenversorgung zu optimieren. Das nützt auch den Kliniken. Die Wettbewerbsfähigkeit eines fortschrittlichen Krankenhauses der Zukunft wird davon abhängen, inwieweit die Integration von moderner Medizintechnik erfolgreich gelingen kann. Eine Investition in Medizintechnologie ist eine Investition in die Zukunft. Die aktuellen Rahmenbedingungen erfordern allerdings eine gezielte Herangehensweise der zur Verfügung stehenden ökonomischen und personellen Ressourcen. Die Medizintechnik-Hersteller bieten eine umfangreiche Begleitung und Unterstützung zur Implementierung von neuen Technologien an. Dazu gehört auch, die KHZG-Fördermöglichkeiten zielgerichtet zu nutzen und nicht durch Abschlagszahlungen bei Nicht-Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen ins Hintertreffen zu geraten. Bei der Etablierung von „Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ – kurz: NUB – verlangt der Gesetzgeber sogar von den Krankenhäusern, das Einvernehmen mit den Medizintechnik-Herstellern herzustellen. Nur gemeinsam mit der Industrie kann eine Umsetzung und Anwendung von medizintechnischen Lösungen durch die Krankenhäuser gelingen

Wie geht es aus Ihrer Sicht mit der Digitalisierung der Kliniken bzw. des Gesundheitswesens voran?

Natalie Gladkov: Die im Zusammenhang mit der Umsetzung des KHZG veranlasste Messung des digitalen Reifegrades hat gezeigt, dass noch viel zu tun ist. Das KHZG und die damit verbundenen Möglichkeiten für die Krankenhäuser hat einigen Schwung in die Digitalisierung gebracht. Es geht nicht nur darum, Prozesse digital abzubilden, sondern auch um innovative Lösungen beispielsweise in der Notfallmedizin oder in der Robotik. Die Frage ist: Was kommt danach, wenn das Fördervolumen investiert ist? Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist nicht mit einer einzigen Investition erledigt: Die Digitalisierung muss weiterentwickelt werden, regelmäßig an einen neuen „State oft The Art“ angepasst werden. Auch die Betriebskosten der IT-Projekte, die nach der Förderung auf die Kliniken zukommen, sind nicht trivial. Die Investitionen müssen weiter verstetigt werden.

Der BVMed fordert von der Politik eine Einbeziehung der Medizinprodukte-Unternehmen bei der Entwicklung einer Digitalstrategie. Warum?

Natalie Gladkov: Wenn wir heute auf 20 Jahre Telematikinfrastruktur zurückschauen, dann war das alles wirklich sehr prozessbetont eingesetzt. Es geht vor allem darum, Daten über ePA, E-Rezept, Versichertendaten-Management zu sammeln. Mit den digitalen Gesundheitsanwendungen ist ein neuer Bereich dazugekommen, die digitalen Medizinprodukte. Nicht nur Software für Prozesse im Hintergrund ist wichtig, sondern auch die Produkte. Wir können über Sensorik, Robotik und Künstliche Intelligenz Daten generieren und auswerten. Dadurch ergeben sich ganz andere Möglichkeiten für die Gesundheitsversorgung. Uns fehlt dabei ein einheitliches Zielbild: Was wollen wir erreichen? Wie weit soll die Digitalisierung gehen? Wir sollten endlich den Fokus auf den Nutzen für Patienten und Anwender legen. Entsprechen die Ideen, Technologien und Spezifikationen von vor 20 Jahren eigentlich dem Stand der heutigen Technologie? Diese Fragen müssen wir uns gegenwärtig stellen, und dafür brauchen wir eine Orientierung. In dieser Diskussion wird die Medizintechnik häufig vergessen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Der Paragraf 374a SGB soll ab dem 1. Juli 2024 regeln, wie Hilfsmittel und Implantate, etwa Insulinpumpen oder Herzschrittmacher, die Daten erheben, die von digitalen Gesundheitsanwendungen genutzt werden können. Hier muss man doch fragen, wie diese Produkte und Technologien eigentlich arbeiten und was es bedeutet, hier eine Software anzuschließen, um Daten zu übertragen.

Wir können ein lebenswichtiges Implantat nicht ohne Weiteres einfach für eine Datenübertragung an digitale Gesundheitsanwendungen nutzen. Wenn ein kardiales Implantat dauerhaft Daten an eine DiGA senden müsste, würde man gleichzeitig auch die Batterie regelmäßig austauschen müssen. Ich glaube, das wäre nicht im Sinne der Patientenversorgung. Welche Schnittstellen müssten wie aber dann geschaffen werden? Da gibt es noch viele offene Fragen und unklare Prozesse. Hier ist es unbedingt notwendig, die Branche einzubinden. Jede Änderung an einem Medizinprodukt macht eine erneute Zertifizierung notwendig. Das ist vor den Hintergrund der aktuellen Situation mit der MDR gar nicht umsetzbar.

Zur Etablierung einer Telematik-Infrastruktur fallen immer wieder Stichworte wie fehlende Standards, mangelnde Kompatibilität, Interoperabilität. Woran hapert es?

Natalie Gladkov: Es gibt sehr viele Systeme und Anbieter, die sich im Laufe der Jahre entwickelt und etabliert haben. Das sind oft dutzende in einem Krankenhaus, die teilweise separat laufen. Wir müssen uns darüber austauschen, was uns wichtig ist und welche Systeme wie miteinander arbeiten können. Hier finde ich die Arbeit des Interop Councils sehr gut. Der Expertenkreis will gemeinsame einheitliche Standards erarbeiten will. Diese Standards sollte man aber unbedingt mit der Industrie abstimmen – und auf internationale Standards setzen. Da sind wir mit dem Interop Council auf einem guten Weg, aber die Besonderheiten von Medizinprodukten müssen auch dort bedacht werden.

Wie kann Digitale Transformation im Gesundheitswesen gelingen?

Natalie Gladkov: Wir müssen uns den Wert der Digitalisierung bewusst machen. Ich habe das Gefühl, dass wir momentan in den Kliniken und in der Gesundheitsbranche in einem Stimmungstief stecken. Viele haben sich ein System eingekauft und Prozesse in Gang gesetzt – aber irgendwie läuft es jetzt auch nicht viel besser. Wir dürfen aber nicht immer nur sehen, was noch nicht funktioniert. Wir sollten uns mehr darauf fokussieren, welche Potenziale die Digitalisierung für das Gesundheitswesen, für die Kliniken und nicht zuletzt für die Patienten hat. Dabei müssen wir wirklich handfeste Mehrwerte schaffen: Dass man auf Daten zugreifen und sie analysieren kann, bietet große Chancen und Lösungen in der Medizin

Elektronische Gesundheitskarte, ePA, KI: Die Nutzung von Patientendaten stößt bei vielen Patienten auf Skepsis. Was tun?

Natalie Gladkov: Der Trend geht langsam dahin, dass sich auch die Patienten, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Digitalisierung und der Datennutzung aufgeschlossener zeigen. Sie haben in der Coronapandemie gesehen, wie wichtig es sein kann und wie groß der Nutzen ist, wenn Daten zur Verfügung stehen. Wir haben gesehen, wieviel besser zum Beispiel Israel die Pandemie bewältigt hat – dank eines hoch digitalisierten Gesundheitswesens und einer effektiven Nutzung von Künstlicher Intelligenz. Gesundheitsdaten sind elementar, um Krankheiten vorzubeugen, frühzeitig zu erkennen und Patienten nach ihren individuellen Bedarfen optimal zu behandeln. Die Nutzung von Gesundheitsdaten ermöglicht auch schnelle, effektive Produktentwicklungen und -verbesserungen – für eine bedarfsgerechte, Patientenversorgung auf einem qualitativ und technisch hohen Niveau. Natürlich ist es dabei wichtig, dass die Bürger vollumfänglich über die Nutzung ihrer personenbezogenen Daten bestimmen können.

Die Ampelregierung hat im Koalitionsvertrag ein modernes Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz in Aussicht gestellt. Was ist aus Ihrer Sicht wichtig in diesem Zusammenhang?

Natalie Gladkov: Das vorgesehene Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz kann die Innovationskraft in Deutschland stärken, wenn es die richtigen Weichen stellt und eine bessere und rechtssichere Datennutzung ermöglicht – auch für Unternehmen der industriellen Gesundheitswirtschaft. Wir müssen die enormen Chancen nutzen, die der europäische Raum für Gesundheitsdaten – kurz: EHDS – für die Gesundheitsversorgung bietet. Wir begrüßen die vorgesehene EHDS-Einführung auf europäischer Ebene. Wir müssen aber die Grundlagen zu seiner Umsetzung auf nationaler Ebene schaffen. Deshalb muss das Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz vorausschauend mit Blick auf die EU-Gesetzgebung gestaltet werden und international anschlussfähig sein. Wir müssen insbesondere Widersprüche und unterschiedliche nationale rechtliche Auslegungen der europäischen Datenschutzgrundverordnung vermeiden. Wenn ein Unternehmen der Medtech-Branche mit einem Krankenhaus kooperieren will, dann sind, abhängig beispielsweise vom Bundesland und der Trägerschaft, viele unterschiedliche Gesetze relevant. Wir brauchen einheitliche Regelungen für die Datennutzung, europaweit. Die Regelungen in Deutschland müssen kompatibel sein mit dem EHDS

Welches ist für Sie die herausragendste, innovativste Erfindung oder Entwicklung der letzten Jahre in der Medizintechnik?

Natalie Gladkov: Die Entwicklung der KI und der bildgebenden Diagnostik ist enorm und wirklich beeindruckend. Diese Technologien bedeuten einen riesigen Fortschritt für die Entscheidungsunterstützung in der Medizin. Ich bin auch überzeugt von Lösungen, die helfen Versorgungslücken zu schließen: So gibt es beispielsweise Apps für Patientinnen mit Endometriose. Von dieser Erkrankung ist jede zehnte Frau betroffen. Diese Apps helfen den Betroffenen bei einer Art Selbstmanagement, mit Endometriose umzugehen, die Symptome zu monitoren und Therapien zu finden. In einer so mit unterschiedlichen Symptomen behafteten chronischen Erkrankung ist das viel wert.

Die Fragen stellte Katrin Rüter, Chefredakteurin „das Krankenhaus“