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Thema des Monats

Pflege im Management: Direktorin in der zweiten Reihe


Foto: Tanja Kotlorz

Vera Lux, Pflegedirektorin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), ist für 2 500 Pflegekräfte verantwortlich und seit mehr als 30 Jahren im Management tätig

In einem weißen, würfelartigen Gebäude ganz am Rande des Hochschulklinikcampus hat Vera Lux, Pflegedirektorin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), ihren Arbeitsplatz. Der Standort des Hauses mit der Bezeichnung „M 29“ ist symptomatisch für die Situation der Profession Pflege und bezeichnend für die Lage vieler Pflegedirektorinnen und Pflegedirektoren in deutschen Kliniken. Eigentlich sind die Pflegekräfte mittendrin in den Kliniken, vor allem an den Patienten, am Bett, aber sie sind eben doch nicht dabei, vor allem, wenn es um die Management-Entscheidungen geht. Obwohl die Pflege auch an der MHH mit ca. 2 500 Menschen die größte Berufsgruppe darstellt, steht der Schreibtisch ihrer Direktorin nicht zentral beispielsweise im Hauptgebäude, sondern fernab an einem äußeren Zipfel des Klinikcampus. Auch im Organigramm sucht man Frau Lux ganz oben vergeblich. Zum Präsidium/Vorstand gehört sie nicht. Die Pflegedirektorin der MHH ist dem Ressort Krankenversorgung zugeordnet und berichtet an das zuständige Präsidiumsmitglied. Steht also ganz unten in dem Organisationsdiagramm der Hochschulklinik. Dass die Pflegedirektorin oder der Pflegedirektor nicht zum Vorstand gehört oder nicht mit Stimmrecht dort vertreten ist, ist in einigen Bundesländern gesetzlich geregelt, so auch in Niedersachsen.

Vera Lux arbeitet mittlerweile seit 30 Jahren im Management. An der Medizinischen Hochschule in Hannover unterstehen ihr etwa 170 Führungskräfte aus der Pflege. Etwa 30 von ihnen sind heute, am 7. Juli, um 10 Uhr in den Hörsaal D gekommen zum Leitungstreffen des mittleren Pflegemanagements. Vera Lux eröffnet die Veranstaltung mit einem Input: „Die Pflege an der MHH – Zahlen – Daten – Fakten“. Dies ist eines von vier Leitungstreffen, zu denen Vera Lux jährlich die Bereichs-, Gruppen- und Stationsleitungen der Kliniken einlädt. Das Programm ist vollgepackt, beginnt mit dem „Austausch zur aktuellen Situation“ und endet mit „Verschiedenes“. Insgesamt sieben Themenblöcke.

Quadratur des Kreises im Hörsaal D

Im Laufe der nächsten drei Stunden wird deutlich, dass hier die Quadratur des Kreises gemanagt werden soll. Die „Mission Impossible“ besteht darin, aus zu wenig genehmigtem Pflegepersonal noch mehr rauszuholen, die vorhandenen Mitarbeitenden – zum Beispiel mit Auslandseinsatz über Erasmus+ über ein Stipendium im europäischen Ausland – zu motivieren, obwohl schon jetzt zu wenig Personal auf den Stationen ist, neue Mitarbeiter zu gewinnen, obwohl viel zu wenig solcher Menschen auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind, und dann auch noch die eigenen Mitarbeitenden durch spezielle Entwicklungsprogramme zu fördern.

Das sind längst nicht alle unlösbar scheinenden Aufgaben. Etwa 50 Führungspflegekräfte der MHH werden in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Woher bekommt man neue Führungskräfte? Wie müssen diese qualifiziert sein? Wer kümmert sich um deren Einarbeitung? Es geht an diesem Vormittag in der niedersächsischen Landeshauptstadt außerdem um die seit der Coronapandemie nicht mehr belegten Klinikbetten, einerseits um eine niedrige Auslastungsquote und andererseits geht es um überlastetes Pflegepersonal und um Zeitarbeiter, die sich ihre Arbeitszeiten aussuchen. Das ist die Gemengelage, nicht nur, aber auch in der MHH, Baujahr 1968. An der Hörsaaldecke fehlen vereinzelt Abdeckplatten, einige Holzklappstühle knarzen und ächzen bedenklich. Das Land versucht an der Stelle zu helfen, mit 1,05 Mrd. € für einen Neubau. Und die Pflege? Ist sie selbst zum Pflegefall geworden, wie die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) in einer aktuellen Studie der Pflege bescheinigt? Droht der Pflege der Kollaps?

Man könnte meinen, angesichts all dieser schwierigen Aufgaben müsste eine Managerin verzweifeln. Vera Lux ist das Gegenteil einer resignierten Frau. Freundlich, verbindlich, kommunikativ begrüßt die 63-Jährige an diesem Morgen ihre Führungsmannschaft. Jeden spricht sie mit Namen an, lässt andere zu Wort kommen und räumt auch mal Fehler ein, wenn etwas schief oder anders gelaufen ist als geplant. Sie selbst beschreibt ihren Führungsstil als „kooperativ“, „teamorientiert“ und „offen“.

„Im Team bin ich viel besser“

Sie hole sich die Meinung ihrer Mitarbeiter ein und treffe gemeinsam mit ihnen Entscheidungen. „Ich möchte keine Alleinunterhalterin sein. Im Team bin ich viel besser. Nur so werden Entscheidungen von allen getragen.“ Manchmal müsse sie aber auch eingreifen. Eine Führungsaufgabe sei nicht immer angenehm, koste „Kraft und Energie. Wir können nur gute Leistungen bringen, wenn wir gemeinsam zusammenstehen“, sagt sie. Und sie wolle ihren Führungskräften auch vermitteln: „Ihr werdet nicht allein gelassen.“

Der Vortrag von Vera Lux im Hörsaal D beginnt mit den Aufgaben und der Verantwortung der Pflege in der MHH. Der Tag beginnt somit mit einem organisatorischen Geburtsfehler. Denn die Pflege ist laut Niedersächsischem Hochschulgesetz (NHG) nur in der Klinikkonferenz, der Krankenhausbetriebsleitung und in den Berufungskommissionen zur Nachbesetzung von Professuren vertreten. Eine Position im Vorstand oder im Präsidium sieht das Gesetz für die Pflege nicht vor. Dafür sind die Aufgaben und die Verantwortung gewaltig. Das Pflegemanagement soll die fachliche, organisatorische und wirtschaftliche Führung des gesamten Pflegebereichs verantworten. Die Steuerung sämtlicher Pflegeprozesse zur Sicherung sowohl einer hohen pflegerischen Qualität als auch der Wirtschaftlichkeit auf universitärem Niveau obliegt dem Pflegemanagement. Viel Verantwortung, wenig Teilhabe.

Lux skizziert die Herausforderungen aufgrund der demografischen Entwicklung in der Gesellschaft und in der Pflege. Die nächste Folie zeigt, dass derzeit in der Pflege 87,1 Vollzeitstellen vakant sind. Im April 2022 haben die Pflegekräfte der MHH 33 306 Überstunden angesammelt. Im Jahr 2021 waren es im gleichen Monat noch 23 045 Überstunden. Die Überlastungsanzeigen haben sich verdreifacht. Lux spricht von „extremen Herausforderungen“ oder von „Riesenherausforderungen“ und schwört ihre Führungscrew ein: „Umso wichtiger ist, dass wir eng zusammenarbeiten und Ressourcen bündeln.“ Fest stehe aber auch, die Pflege könne unter diesen Bedingungen nicht „100 % fahren“. Es kommt immer wieder zu Bettenschließungen.

Maßnahmen der Personalgewinnung

Eine Folie mit vielen blauen Kreisen beschreibt all die Maßnahmen, die das Pflegemanagement zur Personalgewinnung bereits unternommen hat. Da stehen Begriffe wie „internationale Fachkräfte“, „regionaler/überregionaler Arbeitsmarkt“, „Zeitarbeit“ oder auch „Studium Pflege“. Der Studiengang Pflege ist noch eine Wunschvorstellung und keine Realität. Immerhin sind knapp 50 % der Schulabgänger Abiturienten und die wollen oft studieren. Ein Masterplan sieht vor, dass die Ausbildungsplätze sukzessiv von aktuell 260 auf 400 erhöht werden sollen. Auch Zukunftsmusik. Vieles passiert aber auch jetzt schon, zum Beispiel Personalmarketingkampagnen, es gibt ein Pflegeperspektivprogramm zur Weiterentwicklung vorhandener Pflegekräfte namens „Pflegehoch3“. Das Karriereprogramm, ein „Appetizer“ für die Nachfolgegeneration, kann sogar in Teilzeit absolviert werden und ist eine Maßnahme der Mitarbeiterbindung und -entwicklung. Mitarbeiter, die an dem Karriereprogramm teilnehmen, werden von ihrem üblichen Dienst freigestellt. „Die Nachwuchskräfte im Programm haben großes Potenzial und sind unsere zukünftigen Pflegeexperten und Führungskräfte“, beschwört Lux ihre Führungskollegen und -kolleginnen und bittet alle, in den eigenen Teams Ausschau zu halten, wer sich für das Programm eignen könnte. Die Pflegekräfte im alten Hörsaal D werden heute zu Talentscouts in eigener Sache.

Lux Maßnahmenkatalog zur Rettung der Pflege: Eine Arbeitsgruppe „Stärkung der Intensivpflege“ wurde eingerichtet, es gibt finanzielle Zulagen für Pflegende mit abgeschlossener Fachweiterbildung in der Anästhesie und Intensivpflege und Konzepte zum Einsatz akademisch qualifizierter Pflegender. Vera Lux redet von der „Entwicklung der Menschen“, vom „investieren in die Pflege und in die Zukunft“. Es gehe ihr um die Identifikation von Potenzialen in der Pflege, die gefördert und unterstützt werden sollen auf ihrem beruflichen Weg zu verantwortlichen Positionen in der Krankenversorgung, als Pflegeexperte, als Pflegewissenschaftler, Pädagoge oder im Pflegemanagement.

Frau Lux ist eine Macherin. Bevor sie im Juli 2020 nach Hannover an die MHH kam, war sie zehn Jahre Pflegedirektorin an der Universitätsklinik in Köln, und dort, wie im Landesgesetz in NRW geregelt, stimmberechtigtes Mitglied im Vorstand. In den zehn Kölner Jahren ist viel passiert in Sachen Pflege an der Uniklinik, dank Vera Lux. Sie hat den Patienten-Service ausgebaut, ein Patienteninformationszentrum etabliert, neue Personalentwicklungskonzepte auf den Weg gebracht, eine Akademie und eine Hebammenschule gegründet und den Studiengang „Klinische Pflege“, den ersten an einer Medizinischen Fakultät in Nordrhein-Westfalen, etabliert. Hätte Sie das alles auch ohne den Vorstandsposten erreichen können? „Nein“, sagt sie. „Dafür brauchte ich ein Mandat und Kooperationspartner in den Gremien sowie eine Ausstattung. Die Konkurrenz ist groß. Wir müssen Anreize setzen und gut sein, um überhaupt noch Personal zu bekommen.“ Nachhaltige Strukturen für die Zukunft zu schaffen, das mache ihr Spaß, das treibe sie an. „Ich möchte etwas nachhaltig bewirken mit meiner Arbeit.“

Präsent auf der politischen Bühne

Vera Lux berichtet im Hörsaal D über interne Aktivitäten der Pflege und auf dem politischen Parkett. Die Präsentation zeigt Vera Lux neben der niedersächsischen Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Daniela Behrens, oder bei der Akademie der Zukunft, einer Veranstaltung im April 2022. Dann waren da auch der Internationale Tag der Pflege am 12. Mai 2022, das MHH Sommerfest 2022 oder der im Juni 2022 in Berlin stattgefundene Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit, wo Lux in der ersten Reihe sitzt und die wissenschaftliche Leitung des Deutschen Pflegekongresses innehatte. Lux ist zudem Vorsitzende im Niedersächsischen Pflegerat und Mitglied in zahlreichen berufspolitischen Vereinen. „Ich arbeite zwölf Stunden am Tag“, sagt sie. Die Netzwerkerin steht gerne auf der berufspolitischen Bühne. Nicht für jeden ihrer Arbeitgeber war das immer ein Grund zur Freude.

Pflege ist für Vera Lux mehr als nur ihr Beruf. Dreizehn Jahre hat sie ihre hochbetagte Tante gepflegt, bis zu deren Tod im Alter von 99 Jahren. Begonnen hat das Berufsleben der gebürtigen Rheinländerin als Kinderkrankenschwester. Als sie ihr Einser-Examen in den Händen hielt, war sie sehr stolz auf sich. An eine Karriere in der Pflege hat sie damals, 1980, noch nicht gedacht. Doch nach kurzer Zeit merkte „Schwester Vera“: „Ich will mehr Verantwortung übernehmen.“ Aus der Kinderkrankenschwester der Frühgeborenenstation in Bonn-Dottendorf wurde die Oberschwester im Kreiskrankenhaus Bad Homburg, dann die stellvertretende Pflegedienstleiterin im städtischen Krankenhaus in Bad Nauheim, schließlich die Pflegedirektorin im Kreiskrankenhaus Friedberg in Hessen, dann die Pflegedirektorin im Klinikum Darmstadt, wo sie zudem als Geschäftsführerin für den Bereich Gebäudereinigung verantwortlich war. Schließlich wurde sie Pflegedirektorin an der Uniklinik Köln und ist heute Pflegedirektorin an der MHH. In dem einen Jahr Pause zwischendurch hat sie mal durchgeschnauft, aber auch gleich wieder freiberuflich gearbeitet.

Wenn Vera Lux abschalten will, dann spielt sie eine Runde Golf oder verreist mit ihrem Mann nach Indien, Neuseeland, China oder auf das Dach der Welt – nach Tibet. Manchmal schaut sie sich auch in den Urlaubsländern Kliniken an.

Inzwischen halten im Hörsaal D andere, Vera Lux unterstellte Führungskräfte Vorträge. Die Chefin hört konzentriert zu, macht sich Notizen. Zwischendurch lobt sie die vielen Aktivitäten aus den Kliniken und bedankt sich bei Mitarbeitern, die sich für die Pflege und die MHH engagieren, zum Beispiel bei der Ideen Expo in Hannover, die Mitte Juli war. Da sei auch eine „ganz tolle Mannschaft“ vor Ort, schwärmt Lux. „Darauf kann man stolz sein“, sagt sie. Im Eiltempo sind bis 13 Uhr sieben Themenblöcke zur Pflege bearbeitet. „Es war – wie immer – viel“, räumt Lux fast entschuldigend ein. Fest steht im Anschluss vor allem eines: das nächste Leitungstreffen. Es ist am 13. Oktober 2022.

Tanja Kotlorz