Sie entwickeln Anwendungen auf Basis künstlicher Intelligenz (KI), bauen eine Datenplattform am Uniklinikum Essen auf. Um welche Anwendungen und Daten geht es hauptsächlich?
Es geht praktisch um alle Daten, die im Klinikum anfallen. Wir integrieren über rein medizinische Daten hinaus beispielsweise auch Bestandsdaten aus unserem Materiallager, was jetzt im Zuge der Corona-Pandemie relevant wird, wenn es darum geht, jederzeit überblicken zu können, wieviel Atemschutzmasken oder wieviel Desinfektionsmittel wir noch haben. Wir müssen auch den Patienten in seiner Gesamtheit betrachten, alle Daten, nicht nur die unmittelbar relevanten Informationen seiner aktuellen Krankheitssymptome, um optimale Anwendungen zu ermöglichen. Wir müssen diese Daten in geeigneter Weise bündeln, um Nutzen zu generieren. Moderne Data-Mining-Techniken ermöglichen es, große Mengen wertvoller Daten aus vorhandenen Archiven unstrukturierter medizinischer Daten zu extrahieren. Diese bieten die Möglichkeit für hochspezifische klinische Entscheidungen und personalisierte Präzisionsmedizin. Man sagt heute oft: Daten sind das Öl des Informationszeitalters: Das Bild ist nicht schlecht. Daten sind der Rohstoff. Aber genauso, wie Rohöl zunächst in Raffinerien verarbeitet wird, bevor es in einem Verbrennungsmotor für Fortbewegung sorgt, müssen auch Daten verarbeitet, zusammengebracht und in ein allgemein verständliches Format gebracht werden. Es muss also semantische Interoperabilität hergestellt werden, bevor nach vielen weiteren Schichten der Transformation, möglichst mit automatisierter Eingabe der Daten, am Ende die Künstliche Intelligenz, das Machine Learning, Anwendung finden kann.
Die Universitätsmedizin Essen mit ihren fünf Kliniken ist sehr groß. Bei rund 70 000 stationären und fast 300 000 ambulanten Patienten jährlich verfügt sie über entsprechend viele Patientendaten. Können auch kleinere Häuser von KI profitieren? Gibt es Netzwerke, in die auch kleine Häuser und andere Gesundheitseinrichtungen eingebunden sind?
Die gibt es, und sie sind unverzichtbar für Künstliche Intelligenz und Machine Learning. Sie müssen unterscheiden zwischen dem Design und Training einer KI und dem Nutzen. Wenn die KI bei uns gelernt hat, einen Lebertumor zu erkennen, kann ein anderes KH auch davon profitieren – auch bei nur einem Patienten. KI und ML erfordern mehr Daten als ein Krankenhaus allein liefern kann. Auch für KI gilt: Wenn sie seriös betrieben werden soll, ist sie auch extern zu validieren. Es ist für uns daher sehr wichtig, auch zu schauen, ob die entwickelten Modelle auch auf Daten angewandt funktionieren, die nicht aus Essen kommen. Auch kleine Häuser können also als Nutzer von KI profitieren. Sie können aber auch vieles dazu beitragen. Denn viele kleinere Kliniken haben spezielle Stärken und Spezialisierungen. Beispielsweise eine kleine spezialisierte Kinderklinik: Die Mitarbeiter dort sehen sehr viele Kinder mit ganz bestimmten Erkrankungen, oft mehr als an einer Universitätsklinik. Deren Daten sind sehr wertvoll in Bezug auf den Nutzen der KI für die Diagnostik. Oder die Ruhrlandklinik bei uns in Essen als Lungenspezialklinik, die auch zur Universitätsmedizin gehört. Da sehen wir teilweise derart seltene Erkrankungen, dass sie weltweit erst 50 Mal beschrieben wurden. Je mehr Krankenhäuser ihre Daten beisteuern, desto besser ist die Variabilität der Grundgesamtheit in den Trainingsdaten repräsentiert. Es ist also sehr wünschenswert, dass nicht nur wenige große Player mitmachen, sondern explizit auch viele kleine.
Daten sind das neue Öl: Die Aufbereitung oder Nutzung großer Mengen von Daten ist ja auch ein Geschäftsmodell. Steht das einem offenen Austausch nicht entgegen?
Daten erwecken Begehrlichkeiten, auch als Wertschöpfungsquelle. Daraus ergibt sich durchaus ein gewisser Widerspruch zum Erkenntnisinteresse als Mediziner. Trotzdem ist es legitim, wenn ein Krankenhaus versucht, auch daraus Einnahmen zu erschließen –vor allem angesichts der chronischen Unterfinanzierung. Die Forschung ist immer auch auf Drittmittel angewiesen. Dies bringt die Forschung voran, kann aber auch den Austausch erschweren. Es wäre schade, wenn die vage Aussicht auf finanzielle Verwertung von Daten die Zusammenarbeit unter medizinischen Gesichtspunk- Auf der anderen Seite ist es aber gerade im Gesundheitswesen äußerst schwierig, ein Geschäft aus diesen Daten bzw. den darauf aufbauenden Anwendungen zu machen. Die gesetzlichen Hürden, etwa durch das Medizinproduktegesetz, sind sehr hoch.
Sie waren einer der Gastgeber auf dem diesjährigen ETIM-Kongress Ende Februar. Worum geht es bei diesen Treffen? ETIM steht für Emerging Technologies in Medicine. Es ist eine gemeinsame Veranstaltung der Universitätsmedizin Essen und der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Es war bereits das vierte ETIM-Treffen. Wir wollen Netzwerke schaffen, Austausch anregen und einen nachhaltigen Kommunikationsfluss zwischen einzelnen Experten und Arbeitsgruppen initiieren.
Innovationen wie Künstliche Intelligenz oder das Konzept des Smart Hospital stellen uns vor komplexe Herausforderungen. Dafür brauchen wir einen interdisziplinären Ansatz zwischen Ärzten, Informatikern, Ingenieuren, Forschern, Gesundheitsdienstleistern, Gesetzgebern und vielen anderen Disziplinen. Die ETIM-Treffen bringen alle Beteiligten an einen Tisch, um gemeinsam die Anforderungen zu definieren, technische Lösungen zu skizzieren und ein gemeinsames Verständnis der Chancen und auch der auftretenden Schwierigkeiten zu schaffen.
Das ist ein langwieriger interdisziplinärer Prozess, aber es funktioniert toll. Es gibt genug Kongresse für Radiologen zu KI. Das Besondere am ETIM-Treffen ist, dass wir hier ein sehr breites interdisziplinäres Netzwerk aus Ärzten, Informatikern, Ingenieuren, Rechtwissenschaftlern, Ethikern und Philosophen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven haben. Das sorgt für einen sehr fruchtbaren Austausch. Hier ist ein extrem kreatives Netzwerk entstanden.
Wie bewältigen Sie am Universitätsklinikum Essen die COVID-19-Pandemie?
Wir haben sehr früh viele elektive Eingriffe und Untersuchungen, in Absprache mit den Patienten und soweit medizinisch vertretbar, zurückgestellt, waren aufgrund einer vorausschauenden Materialwirtschaft mit Schutzausrüstung relativ gut versorgt, haben das Thema sofort sehr ernst genommen und entsprechend entschlossen reagiert. Dadurch hatten wir die Lage von Anfang an gut im Griff. Aber dennoch ist die Pandemie auch für uns eine absolute Ausnahmesituation. Ich hatte einige Dienste als Radiologie, in denen ich ausschließlich COVID- 19-Patienten gesehen habe, zum Teil wirklich schwerstkranke Menschen.
Unsere Arbeitsgruppe war und ist stark damit beschäftigt, Daten aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen, etwa für die Gesundheitsämter und für Arbeitsgruppen und Initiativen, die die Datenplattform nutzen, um Erkenntnisse über das Virus zu generieren.
Welche Rolle kann KI hier spielen?
Vor allem am Anfang der Pandemie wurden wir permanent von Arbeitsgruppen aus aller Welt angefragt, mitzuarbeiten an KI-Projekten, um COVID-19 im CT zu detektieren. Aber so sollte man KI nicht betreiben. Wir müssen auch hier von der medizinischen Fragestellung, einem klinischen Problem ausgehend, ansetzen und dann versuchen, ein optimales Tool zu finden, das Problem zu lösen – und zwar effizient und schnell.
Viele dieser KI-Projekte zu COVID-19 waren mit der heißen Nadel gestrickt. Es gibt einen KI-Hype in Bezug auf die Bildgebung. COVID-19-Infiltrate erkennt man als Radiologe aber binnen Sekunden auf Lungenbildern. Hier macht KI wenig Sinn, allein wegen der klinischen Abläufe: Großflächig eingesetzt ist nicht die Befundung ist das Problem, sondern die Scan-Kapazität. Eine CT-Untersuchung dauert inklusive Lagerung, Planung und so weiter circa 10 Minuten und nach jedem Scan eines SarsCoV2-Verdachtsfalles muss das Gerät desinfiziert und für eine Stunde geschlossen werden. Wir sind also durch Logistik und Geräteverfügbarkeit limitiert und nicht durch die Befundungskapazität bei den Radiologen. Also kann KI das Problem auch nicht für uns lösen.
KI kann aber hilfreich sein, Daten strukturierter zu erheben, mehr Evidenz zu erlangen. So könnte die Quantifizierung der Infiltrate, also die Frage, wieviel Gewebe der Lunge ist betroffen, durch KI erfolgen. Das Augenmaß der Radiologen ist da unpräzise. Das händisch halbwegs genau zu vermessen dauert sehr lange. Hier gibt es sinnvolle Möglichkeiten, ein Quantifizierungstool auf Basis von KI zu bauen.
Solche Segmentierungstechniken werden aber in der akuten Pandemie-Situation keine Rolle spielen. Das wird später in retrospektiven Studien mit großen Datenmengen aufgearbeitet werden müssen. Vielleicht kann dann mittels KI eine Vorhersage in Bezug auf das Outcome des Patienten noch etwas verbessert werden. Bei COVID-19-Fällen in der Zukunft könnte Bildgebung einen Beitrag leisten bei der Einschätzung des Risikos eines komplizierten Verlaufs. Und COVID-19 wird uns wohl leider erhalten bleiben.
Was halten Sie vom Einsatz von Tracking-Apps, wie etwa das Robert-Koch-Institut sie entwickelt?
Ich halte dies für absolut sinnvoll. Die Nachverfolgung potenziell Infizierter wäre wirklich eine Hilfe, die Pandemie einzudämmen, weil sie Übertragungswege nachvollziehbar macht. Das muss aber schnell passieren und flächendeckend eingesetzt werden.
Der Datenschutz muss natürlich gewahrt werden. Die Vorbehalte gegen die RKIApp halte ich aber für übertrieben: Die meisten Menschen haben Facebook, Google und anderes auf dem Handy, das sie ständig bei sich tragen und wenig Bedenken, ihre Daten Konzernen mit rein kommerziellem Interesse zur Verfügung zu stellen. Und ausgerechtet bei einer so sinnvollen App vom RKI habe sie Bedenken? Nachdem ich die teilweise dramatischen Verläufe von an COVID-19 erkrankten Patienten gesehen habe, kann ich nur sagen: Wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können, installiere ich mir diese App gerne.