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Politik

Das INZ am Hamburger Marienkrankenhaus


Ministerbesuch am 30. Juni 2023 (v.l.n.r.): Christoph Schmitz (Geschäftsführer, Kath. Marienkrankenhaus), Dr. Michael Wünning (Chefarzt Zentrum für Notfall- und Akutmedizin, Kath. Marienkrankenhaus), Melanie Schlotzhauer (Senatorin für Gesundheit, Stadt Hamburg), Prof. Dr. Karl Lauterbach (Bundesgesundheitsminister), Dr. Björn Parey (Stv. Vorsitzender der Vertreterversammlung, KVH) und Caroline Roos (Stellv. Vorsitzende des Vorstandes, KVH).

Von Experten und Politik gefordert, in Hamburg bereits Realität: Seit Sommer 2022 gibt es am Katholischen Marienkrankenhaus das erste und bislang einzige Integrierte Notfallzentrum (INZ) in ganz Deutschland.

Das Besondere: Im INZ kümmern sich das Marienkrankenhaus (rund 600 Betten, ca. 42 000 Notfallpatienten pro Jahr) und die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg gemeinsam und „aus einer Hand“ um die medizinische Versorgung der Notfallpatienten – und das an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr.

Das INZ wurde am 1. Juni 2022 offiziell im Beisein von Hamburgs damaliger Gesundheitssenatorin, Dr. Melanie Leonhardt, eröffnet. Seitdem sind regelmäßig Medien, Abgeordnete, Verbandsvertreter und Besucher aus anderen Kliniken aus ganz Deutschland in Hamburg zu Gast, um sich die Abläufe im INZ zeigen zu lassen. 

Auch Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach zeigte sich bei seinem Besuch im Juni 2023 beeindruckt und nannte das INZ eine „Blaupause“ für die Notfallreform, die im Gesundheitswesen ansteht. „Die Zusammenarbeit vom Marienkrankenhaus und der KV ist schon ein Vorbild für das, was wir im Bund anstreben“, betonte der Minister bei der gemeinsamen Pressekonferenz.

So funktioniert das INZ

„Die Hilfesuchenden definieren für sich selbst den Notfall und befinden sich in der Regel in einer persönlichen Ausnahmesituation. Es wird daher darauf ankommen, dass die Notfall- und Akutversorgung rund um die Uhr in der Lage ist, Hilfesuchende unmittelbar zielgerichtet zur richtigen Versorgung zu steuern. Die Hilfesuchenden definieren den Notfall, das System die Reaktion darauf.“

So heißt es prägnant in der Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung zur „Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland: Integrierte Notfallzentren und Integrierte Leitstellen“ (Februar 2023).

Entscheidung am Tresen

Und genau hier kommt das zentrale Element des INZ am Marienkrankenhaus zum Tragen, das es so bislang in keinem anderen Krankenhaus in Deutschland gibt: der räumlich in das Zentrum für Notfall- und Akutmedizin integrierte und gemeinsam betriebene Empfangstresen.

An diesem Tresen erfolgt die medizinische Ersteinschätzung aller Patienten, die fußläufig die Notaufnahme der Klinik aufsuchen. Grundlage ist die zertifizierte Software „SmED Kontakt+“ und ein spezieller Abfrage-Algorithmus durch Medizinische Fachangestellte der Kassenärztlichen Vereinigung.

Anhand der qualifizierten und KI-gestützten Ersteinschätzung wird innerhalb kürzester Zeit ermittelt, in welche Versorgungsstruktur der Patient sinnvollerweise geleitet wird. Ist die sofortige Verlegung in die Notaufnahme notwendig (sogenannte Red Flag-Kriterien)? Ist die KV-Notfallpraxis im INZ die passende Versorgungsform? Oder kann ein Termin bei einem Haus- oder Facharzt in der Nähe vermittelt werden?

Notaufnahme, KV-Praxis, Terminservicestelle – alles in einem

Ist der Patient als ambulanter Fall eingestuft, wird er anschließend in der KV-Notfallpraxis im Krankenhaus behandelt oder erhält über die Terminservicestelle (TSS) am Tresen innerhalb der nächsten 24 Stunden einen Termin bei einem niedergelassenen Hausarzt.

Kann auf diesem Weg kein Termin gefunden werden (etwa, weil in der TSS nicht ausreichend Termine eingestellt sind), können die Patienten auf das MVZ am Marienkrankenhaus (Praxis für Allgemein- und Akutmedizin) zurückgreifen.

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„Die Hilfesuchenden definieren den Notfall, das System die Reaktion darauf.“

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Faktisch setzt das INZ am Marienkrankenhaus mit der Integration von ambulanter und stationärer Notfallversorgung also bereits jetzt genau das um, was die Politik erreichen möchte – was sich aber bis jetzt sonst noch kein anderes Krankenhaus zugetraut hat.

Tat aus Überzeugung

Dass innovative Lösungsmodelle, die sich an den Bedürfnissen der Patienten orientieren, insbesondere in der Notfallmedizin am Marienkrankenhaus eine lange Tradition haben, zeigt auch ein Blick in die Historie.

Bereits in den 1980er Jahren entstand hier die erste Interdisziplinäre Notaufnahme in Hamburg und eine der ersten in ganz Deutschland, was für damalige Verhältnisse eine wesentliche Verbesserung der Versorgung der Patienten bedeutete. Weitere 20 Jahre später wurde das Konstrukt durch eine Notfallpraxis mit Wochenendbetrieb ergänzt, die durch mehrere Hausärzte Hamburgs am Standort getragen wurde – der erste Vorläufer sektorübergreifender Zusammenarbeit in Deutschland. 

Die Wurzeln für das Integrierte Notfallzentrum schließlich liegen dann im Jahr 2011, als das krankenhauseigene MVZ (Praxis für Allgemeinmedizin) in die Zentrale Notaufnahme im permanenten Wochentagsbetrieb integriert wurde.

Die grundlegende Erkenntnis: Nur eine kluge Verknüpfung von ambulanten und stationären Sektoren kann die Versorgung von Notfallpatienten verbessern und gleichzeitig das Personal in der Notaufnahme entlasten.

Zwei Drittel der Notfallpatienten sind ambulant

Schließlich ist die Zahl der Patienten in den Notaufnahmen der deutschen Krankenhäuser in den vergangenen Jahren massiv gestiegen, was eine dringende Neuorientierung erforderlich macht.

Zwischen 2009 und 2019 stieg die Zahl der im Krankenhaus behandelten Notfälle um 28 % auf 19,1 Millionen Patienten. Im Marienkrankenhaus sind fast zwei Drittel der Notaufnahmepatienten ambulant, was zu erheblichen Kosten führt.

Konkret: Krankenkassen übernehmen 35 bis 45 € für eine nicht-stationäre Behandlung, während Krankenhäuser durchschnittlich 135 € für die Vorhaltung zahlen. Erhebliche finanzielle Verluste sind die Folge. Und das alles bei anspruchsvollen Rahmenbedingungen, die bereits durch Personalengpässe, Schichtdienste und hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnet sind.

Das Vorhaben am Marienkrankenhaus, die Notfallversorgung ressourcen- und vor allem patientenorientiert weiterzuentwickeln, konkretisierte sich schließlich 2018 nach den Empfehlungen des Sachverständigenrats zur bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

In diesem Gutachten wurden das Prinzip und die Notwendigkeit sogenannter Integrierter Notfallzentren schon sehr konkret beschrieben. Noch im gleichen Jahr stand für Geschäftsführung und die chefärztliche Leitung der Notaufnahme fest, dass das Marienkrankenhaus als INZ umgestaltet wird.

Simulation am Lego-Modell

In intensiven Gesprächen mit dem damaligen Hamburger KV-Vorstand wuchs die Überzeugung, gemeinsam mutig voranzuschreiten statt einfach abzuwarten, bis der Gesetzgeber Entscheidungen treffen würde.

Nicht nur eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den beiden Sektoren war eine Voraussetzung für das Gelingen, es brauchte natürlich auch die Unterstützung durch die Landesregierung. Das Vorhaben war eng mit den Behörden abgesprochen, erste Fördermittelbescheide für den Umbau der Notaufnahme wurden ausgestellt.

Weil das INZ Praxis und Klinik auf besondere Weise zusammenbringt, wurde es auch auf sehr ungewöhnlichem Weg konzipiert: mit Lego-Bausteinen und -Figuren. Die Simulation von Patientenströmen, der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und der Personalressourcen vermittelte einen sehr plastischen Eindruck der Planungen und förderte das Verständnis und den Willen für das Projekt bei allen Beteiligten.

Die finalen Gespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigung konnten dann ab 2021 geführt werden, insgesamt dauerte es gut ein Jahr bis die Rahmenbedingungen schließlich feststanden und das INZ im Beisein von Hamburgs damaliger Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard am 1. Juni 2022 offiziell seine Tore für die Patienten öffnete.

Bilanz: die Zahlen nach einem Jahr

Und das Zwischenergebnis des Projekts fällt nach anderthalb Jahren Laufzeit positiv aus. Die operative Zusammenarbeit zwischen den Sektoren funktioniert. Außerdem kommt das INZ bei den Patienten gut an: Es gibt eine schnelle Einschätzung, ob eine ernsthafte Erkrankung vorliegt. Und niemand beharrt darauf, als ambulanter Fall in der Notaufnahme behandelt zu werden, wenn als Alternative ein zeitnaher Termin bei einem niedergelassenen Arzt angeboten wird.

Dieses patientenorientierte Vorgehen verbessert die Versorgung von Notfallpatienten erheblich. Sie erhalten genau die Behandlung, die individuell passend ist – und das ohne lange Wartezeiten.

In der Folge haben auch die Ärzte und das Pflegepersonal in der Notaufnahme der Klinik mehr Zeit für lebensbedrohliche Notfälle wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle.

Wichtig ist natürlich, dass am Tresen in Fallback-Situationen immer auf die Einschätzung eines Arztes für klinische Notfall- und Akutmedizin zugegriffen werden kann. In der Regel ist der Tresen durch MFAs der KV besetzt, doch werden Notfallmediziner hinzugezogen, wenn es um die generelle Einschätzung von Kindern geht oder die Bewertung der Ersteinschätzungssoftware infrage gestellt wird.

Entlastung der Notaufnahme um 24 %

Besonders beeindruckend: Innerhalb eines Jahres konnte die Notaufnahme des Marienkrankenhaues um 24 % entlastet werden.

Mit Hilfe der Ersteinschätzungssoftware wurden gute 67 % der insgesamt 42 000 behandelten Patienten erfolgreich eingeschätzt (ohne Rettungsdienst/Notarztwagen /andere Zubringung).

Von diesen 28 000 Patienten, die am Tresen eine Ersteinschätzung erhielten, wurde ein Großteil letztendlich der ambulanten Versorgung zugeordnet. In einem Jahr konnten 24 % aller Patienten herausgefiltert werden, die nicht zwingend in die Notaufnahme mussten.

Künftig ist geplant, diese Zahl um weitere 9 % zu erhöhen. Eine wichtige Stellschraube, um die Anzahl ambulanter Fälle weiter zu verringern, ist die Integration des Rettungsdienstes, da ein Drittel der Patienten über diesen in die Notaufnahmen eingeliefert wird.

Zugleich ist eine Verfeinerung der Ersteinschätzungssoftware am Tresen notwendig, um eine noch präzisere Patienteneinordnung zu gewährleisten.

Die Hürden im System

Trotz dieser vielversprechenden Zwischenergebnisse sind in der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit natürlich auch gewisse Optimierungspotenziale sichtbar. Schließlich ist das INZ im Prinzip ein Brennglas auf die Sektoren sowie die deutsche Versorgungsproblematik. Die Schwierigkeiten, die sich im Kleinen am INZ zeigen, kommen so auch im gesamten Gesundheitswesen vor.

Insbesondere die digitale Vernetzung zwischen der Notfallpraxis der KV und dem Zentrum für Notfall- und Akutmedizin steht vor zahlreichen Hürden, insbesondere im Hinblick auf die Verfügbarkeit medizinischer Daten bei Überweisungen oder Folgebehandlungen. Zum einen unterscheiden sich die IT-Systeme der KV am Tresen, des Notfallinformationssystems und des MVZ voneinander. Zum anderen erschweren fehlende rechtliche Rahmenbedingungen die intersektorale Zusammenarbeit.

Deshalb braucht es schnelle und schlanke Lösung dafür, den Datenschutz für Patienten von Anfang an über alle Sektoren hinweg berücksichtigen zu können.

Und, welches Problem ebenfalls juristisch noch nicht geklärt werden konnte: Möchte die KV-Notfallpraxis am Klinikum zum Beispiel Laborleistungen oder radiologische Leistungen einkaufen, ist das aktuell medicolegal nicht möglich.

Die Grenzen der TSS

Eine weitere wichtige Baustelle: Die Terminservicestelle der KV stößt an ihre Grenzen. Das System funktioniert nur dann, wenn niedergelassene Ärzte tatsächlich Termine einstellen. Ist dies nicht der Fall, können Patienten nicht entsprechend ambulant versorgt werden. Das verdeutlichen auch die bisherigen Ergebnisse: 94 % der ambulanten Fälle, die eigentlich extern versorgt werden sollten, kamen letztendlich in das krankenhauseigene MVZ. Nur für 6 % der Fälle konnten also Arzttermine über das KV-System vermittelt werden. Das Problem ist jedoch erkannt, die KV arbeitet bereits an der Verbesserung der Situation.

Ein weiteres Manko besteht darin, dass es noch nicht möglich ist, Facharzttermine zu vermitteln. Dabei suchen häufig gerade solche Patienten in der Notaufnahme Hilfe, die bereits seit Monaten auf Termine bei Fachärzten warten.

Finanzierung sichern

Nicht zuletzt die aktuellen Diskussionen um die Sozialversicherungspflicht sogenannter Poolärzte im Notdienst und das entsprechende Urteil des Bundessozialgerichtes (Az.: B 12 R 9/21 R) haben gezeigt, wie fragil das Konstrukt von KV-Notfallpraxen ist.

Auch ein Projekt wie das INZ kann niemals losgelöst von der Gesamtversorgungslage gesehen werden. Vielmehr sind die Lösungsansätze vor dem Wissen entstanden, dass dies nur ein Teil der Versorgungsrealität sein kann, der mitgedacht und geändert werden muss.

Das Ziel einer verbesserten Wirtschaftlichkeit verbunden mit dem Ringen um eine adäquate Refinanzierung der Kosten eint die Akteure im Gesundheitswesen gleichermaßen.

Ganz konkret wird die Finanzierung des Zukunftsmodells INZ aktuell ausschließlich durch die niedergelassenen Ärzte in Hamburg und durch die Klinik geleistet.

Hier muss der Gesetzgeber dringend handeln mit einem sicheren Rechtsrahmen und einer gesicherten Finanzierung, damit behutsam aufgebaute Strukturen in der Notfallversorgung, die von den Patienten angenommen werden, weiterbestehen. Das Eckpunktepapier des Bundesgesundheitsministeriums aus dem Januar mit dem expliziten Bekenntnis zur Einführung von INZs ist die erste Grundlage hierfür.

Fazit: INZ – jetzt erst recht!

Trotz der zahlreichen Herausforderungen gibt es für die Akteure keine Alternative zum INZ, denn es beendet endlich das häufige „Triage-Pingpong“ zwischen den Gesundheitssektoren, das auf dem Rücken der Patienten ausgetragen wird.

Der gemeinsame Tresen ist der zentrale Anlaufpunkt, der zum frühestmöglichen Zeitpunkt den für den Patienten geeigneten Weg bahnt. Der Patient steht dabei, wie von Minister Lauterbach und den Ländern gefordert, im Mittelpunkt – und zwar im besten Verhältnis von Aufwand und Nutzen.

Unter dem Motto „INZ – jetzt erst recht!“ erfolgt aktuell ein umfangreicher Umbau bei laufendem Betrieb. Die Kosten dafür liegen bei fast neun Millionen Euro. Dabei handelt es sich nicht nur um eine bloße Erweiterung der ZNA, sondern die Abläufe des INZ werden in der neuen Raumstruktur berücksichtigt und optimiert. Außerdem wird ein Augenmerk auf die Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen mit verbesserter Kosteneffizienz gelegt.

Denn die Situation wird sich durch den Fachkräftemangel und aufgrund des demografischen Wandels weiter verschärfen. Deshalb muss gegengesteuert werden.

Das INZ ist dabei eine optimale Lösung. Viele Kliniknotaufnahmen hatten im letzten Jahr erneut eine Steigerung insbesondere der „leichten“ Patientenkontakte zwischen fünf und sieben Prozent zu verzeichnen. Im INZ hingegen wurde erreicht, das Gesamtniveau auf dem gleichen Stand zu halten, sodass man sich auf die „schweren“ Notfälle besser konzentrieren konnte.

 

Christoph Schmitz, Geschäftsführer, Kath. Marienkrankenhaus Hamburg