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Politik

„20 404 Lebensjahre mehr durch Erstbehandlung in zertifizierten Zentren“


Foto: picture alliance/Daniel Kalker

Eine Woche vor dem letzten Treffen der Bund-Länder-Gruppe zur Krankenhausreform hat die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ in einer fünften Stellungnahme eine Potenzialanalyse vorgelegt. Anhand exemplarischer Erkrankungen – etwa für Krebs, Schlaganfall und Endoprothetik – sollten die möglichen Auswirkungen des Reformkonzeptes gemäß der dritten Stellungnahme der Kommission zur „Grundlegenden Reform der Krankenhausvergütung“ vom Dezember vergangenen Jahres zur Verbesserung von Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung untersucht werden. Allerdings sind viele der damaligen Vorschläge längst im Rahmen der Bund-Länder-Treffen deutlich modifiziert oder einkassiert worden.

Die Analyse will zeigen, wie sich Spezialisierung und Erfahrung auf den Erfolg der Krankenhausbehandlung auswirken:„Werden komplizierte medizinische Behandlungen ausschließlich in dafür spezialisierten Kliniken durchgeführt, verbessert sich die Versorgungsqualität und häufig auch die Wahrscheinlichkeit, mehr Leben zu retten, etwa bei Schlaganfällen und Krebserkrankungen“, so das Fazit der Potenzialanalyse.

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: „Die Studie bestätigt den Kern der Krankenhausreform. Qualität rettet Leben. Die Krankenhausreform wird zehntausende Menschenleben retten pro Jahr. Insbesondere bei der Versorgung von Krebs- und Herz-Kreislauf-Patienten. Wir werden daher bei den Qualitätszielen keine Kompromisse machen. Im Gegenzug müssen die Kliniken gut bezahlt werden, die ihre Patientinnen und Patienten auch gut behandeln. Wir brauchen eine gute und schnell erreichbare Grundversorgung. Aber nicht jedes Haus muss auch jede medizinische Behandlung anbieten. Komplizierte Eingriffe sollten ausschließlich in spezialisierten Kliniken und durch sehr gut qualifizierte Mediziner erfolgen. Das verbessert Behandlungsqualität und letztlich auch die Überlebens- und Genesungschancen der Patientinnen und Patienten.“

Prof. Tom Bschor, Leiter und Koordinator der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung: „Deutschland hat im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn eine einzigartig hohe Dichte an Krankenhäusern und Krankenhausbetten. Damit haben wir ideale Voraussetzungen, auch nach der von der Regierungskommission empfohlenen Konzentration der Behandlungen auf erfahrene Kliniken, flächendeckend und engmaschig eine exzellente Versorgung anzubieten. Die von der Regierungskommission durchgeführte wissenschaftliche Potenzialanalyse hat gezeigt, dass im gegenwärtigen System Krebs- und Schlaganfall-Patienten früher sterben als nötig, weil zu viele Krankenhäuser diese Behandlungen durchführen.“

Die Grundlage der Studie bildeten Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung, Daten aus den Qualitätsberichten der Krankenhäuser sowie Daten von medizinischen Registern und Fachgesellschaften. Die Analysen wurden unterstützt durch eine Kooperation mit dem GKV-Spitzenverband (GKVSV), dem AOK Bundesverband und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). Berücksichtigt wurden bei der Analyse die Strukturqualität und die Erreichbarkeit der Häuser.

Die Ergebnisse im Detail:

für Krebs

– Würden alle Krebspatienten zur Erstbehandlung in zertifizierten Zentren versorgt, könnten pro Jahr 20 404 Lebensjahre gerettet werden.

– Brustkrebspatientinnen haben einen fast 25 % höheren Überlebensvorteil bei Erstbehandlung in einem zertifizierten Zentrum. Allein beim Brustkrebs könnten jährlich ca. 3 800 Lebensjahre gewonnen werden, würden alle Frauen in zertifizierten Brustkrebszentren behandelt.

– Eine bessere Versorgungsqualität ist in der bestehenden Krankenhausstruktur zu schaffen. Über die Hälfte der Bevölkerung erreicht zum Beispiel ein zertifiziertes Darm- oder Brustkrebszentrum vom eigenen Wohnort in deutlich unter 20 Minuten.

für Schlaganfall

– Würden alle Patientinnen und Patienten nach einem Schlaganfall in einem Krankenhaus mit Stroke-Unit behandelt werden, könnten zusätzlich rund 5 000 Menschen den Schlaganfall im ersten Jahr überleben.

– Würden Schlaganfall-Patienten nur noch in Kliniken mit Stroke-Units gebracht, würde sich die durchschnittliche Fahrzeit insgesamt um nicht einmal 2 Minuten verlängern.

für Endoprothetik

– Würden Hüft- und Kniegelenke nur noch in spezialisierten Kliniken ersetzt, könnten 397 bzw. 212 Revisionsoperationen pro Jahr vermieden werden.

– Nur jede dritte Klinik, die die Operationen durchführt, bringt gegenwärtig genug Erfahrung (gemessen an einer moderat festgesetzten Mindestfallzahl) für Knie-Totalendoprothesen mit. Für Hüftoperationen ist es nur jede vierte.

DKG: „kein sachlicher Beitrag zur Qualitätsdebatte“

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) kritisiert die neueste Stellungnahme der Regierungskommission für die Krankenhausreform und weist zentrale Behauptungen zurück. Dazu erklärt der Vorstandsvorsitzende der DKG, Dr. Gerald Gaß: „Die von Karl Lauterbach bestellte Auswertung von Abrechnungsdaten zur Qualitätsbewertung markiert einen neuen Tiefpunkt in der politischen Debatte um die Zukunft der Krankenhausversorgung in Deutschland. Krankenhäuser beteiligen sich seit vielen Jahren freiwillig und trotz fehlender Refinanzierung

gerade im Bereich der Krebstherapie mit großem Engagement an Qualitätssicherungsmaßnahmen und Zertifizierungen. Aus unwissenschaftlichen Analysen abgeleitete plakative Aussagen über vermeidbare Todesfälle bei Krebspatienten und Schlaganfällen sind kein konstruktiver Beitrag zu einer sachlichen politischen Debatte. Den vom Minister beauftragten Autoren sind offensichtlich keine Schlussfolgerungen zu schlicht und fernab jeder wissenschaftlichen medizinischen Erkenntnis, um sie

nicht für ihre Zwecke zu nutzen.“

Gerade die von der Regierungskommission als Beispiel herausgegriffene Schlaganfallversorgung eigne sich überhaupt nicht für die angestrebte Negativdiskussion. Die Zahl der zertifizierten Stroke Units hat sich über die Jahre stetig auf heute 343 erhöht. Eine Auswertung des Bundesinstituts für Bau, Stadt und Raumforschung (BBSR) zeigt, dass die Bevölkerung in Deutschland nahezu optimal mit Stroke Units versorgt ist. Fast 90 % der Bürger erreichen von ihrem Wohnort aus eine Stroke Unit innerhalb von 30 Minuten.

„Auch wenn die Autoren der Studie dies nicht wissen oder zur Kenntnis nehmen: Kaum ein Versorgungsbereich in Krankenhäusern wird so umfassend durch eigens beauftragte Qualitätsstellen dokumentiert wie die Schlaganfallversorgung“, so Gaß.Schlaganfallpatienten müssten schnellstmöglich nach einem akuten Schlaganfall in Stroke Units behandelt werden, um dort mit intensiven Therapien Erfolge erzielen zu können. Dass der Rettungsdienst Akut-Patienten schnell in die Stroke Units transportiert, gelingt in allen Bundesländern zuverlässig mit einer Quote von teilweise über 90 %. Verbesserungspotenzial im Interesse der Patienten gibt es deshalb allenfalls bei der frühen Erkennung von Schlaganfallsymptomen in Seniorenheimen oder im häuslichen Umfeld.

Wenn nun in der vorgelegten Studie aus den Abrechnungsdaten der Krankenhäuser codierte Schlaganfallpatienten identifiziert werden, die im Krankenhaus nicht in einer Stroke Unit behandelt wurden, dann sind das fast ausschließlich Patienten, die eben nicht mit einem akuten Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurden, sondern mit einer unklaren Diagnose. Gerade bei älteren Patienten werden Schlaganfälle als solche oft nicht früh erkannt, und die Patienten kommen erst Tage später in die Behandlung. „Leider haben gerade diese Patienten dann eine schlechtere Prognose und eine höhere Mortalität.

Daraus einen Zusammenhang zur Behandlungsqualität der Krankenhäuser zu ziehen, ist völlig absurd. Es wäre eine absolute medizinische Fehlleistung, solche Patienten zu diesem späten Zeitpunkt in eine Stroke Unit zu verlegen, da sie dort zwar intensivmedizinisch behandelt würden, von dieser Behandlung aber nicht profitierten“, so der DKG-Vorstandsvorsitzende.

All das könne man aus den Abrechnungsdaten der Krankenkassen nicht erkennen. Hätte die Regierungskommission tatsächlich ein Interesse an einer wissenschaftlich fundierten Bewertung der Schlaganfallversorgung gehabt, hätte sie die vorhandenen Schlaganfalldokumentationen auswerten müssen und nicht die Abrechnungsdaten der Krankenkassen.

Auch der zweite zentrale Bereich der Studie wirft viele Fragen auf. Unzweifelhaft ist der Zusammenhang zwischen onkologischer Behandlungsqualität und Zertifizierung durch die Deutsche Krebsgesellschaft. „Gerade deshalb engagieren sich die Krankenhäuser in diesem Bereich und unterziehen sich absolut freiwillig dieser Zertifizierung, ohne dass Minister Lauterbach jemals daran gedacht hätte, dieses Engagement finanziell zu fördern“, so Gaß weiter. Die Zahl der von der Krebsgesellschaft für eine onkologische Behandlung zertifizierten Standorte steige daher stetig. Von 2010 bis 2022 hat sie sich von 641 auf 1926 entwickelt. „Die Kliniken lassen sich aus eigenem Ansporn und im Bewusstsein, daraus Vorteile für die Patientinnen und Patienten zu erzielen, zertifizieren. Es wäre erfreulich, wenn der Minister und die Kommission das einmal zur Kenntnis nehmen und würdigen würden. Wenn die Autoren der Studie nun das Potential der zu rettenden Lebensjahre aus den Daten 2017 herleiten und suggerieren, die Krankenhausreform würde das ermöglichen, muss man feststellen, dass zwischenzeitlich schon sehr viel von diesem theoretischen Potenzial gehoben wurde.

Seit 2017 bis heute ist die Zahl der zertifizierten Organkrebszentren um fast 50 % und die der zertifizierten onkologischen Zentren um fast 40 % gestiegen. All das haben die Krankenhäuser mit ihrem freiwilligen Engagement erreicht, nicht durch Zwangsmaßnahmen aus dem Bundesgesundheitsministerium. Und diese Entwicklung geht weiter. Es ist unübersehbar, dass die Krankenhäuser längst auf dem Weg sind und alles unternehmen, um die Patientenversorgung weiter zu verbessern. Auf diesem Weg waren sie schon bevor sich die Kommission mit der Krankenhausreform beschäftigt hat.“ Wo Krebs noch außerhalb zertifizierter Standorte behandelt wird, müsse genau analysiert werden, um welche Patienten in welcher Lebensphase es sich handele. Auch das gehe nicht aus den Abrechnungsdaten hervor. Nicht selten sind es individuelle, bewusste Entscheidungen der Patienten am Ende einer langen Leidensphase.

Grundsätzlich müsse sich der Bundesgesundheitsminister fragen, auf welche Füße er seine Reform stellt. „Auch diese Stellungnahme lässt ein weiteres Mal die breite wissenschaftliche Debatte vermissen. Das ist erstaunlich, beruft sich der Minister doch immer wieder auf die Wissenschaft als Leitlinie seines Handelns. Wissenschaft bedeutet jedoch nicht, dass ein eingeschränkter Personenkreis hinter verschlossenen Türen eigene Erkenntnisse und Theorien entwickelt, sondern im Austausch mit der breiten wissenschaftlichen Community erarbeitet. In diesem Zusammenhang ist es völlig inakzeptabel, dass der GKV-Spitzenverband und der AOK-Bundesverband eng eingebunden werden und interessensgeleitete Analysen liefern, während alle anderen Akteure des Gesundheitswesens als ‚Lobbyverbände‘ ausgeschlossen werden“, kritisiert der DKG-Vorstandsvorsitzende: „Der Minister sollte seine Zeit besser dafür nutzen, das von ihm selbst propagierte Krankenhaussterben zu beenden. Das wäre kurzfristig der wirkungsvollste Beitrag zur Qualitätssicherung im Interesse der Patientinnen und Patienten.“ krü