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Interviews und Meinungen

Im Gespräch mit Dr. Tim Flasbeck, Chefarzt der Klinik für Notfallmedizin am Carl-Thiem-Klinikum Cottbus


Dr. Tim Flasbeck ist Chefarzt der Klinik für Notfallmedizin am CTK Cottbus. Er beschäftigt sich seit 15 Jahren mit prozessoptimale Raum- und Betriebskonzepten von Notaufnahmen. Dr. Flasbeck hat nationale und internationale Notaufnahmeprojekte betreut und begleitet, u.a. in Kirgistan, Uganda, Quatar, Bahrein und Sri Lanka. Bis 2020 hat er bundesweit alle Notaufnahmekonzepte der Malteser verantwortet. Foto: privat

Die Notaufnahmen der Kliniken machen immer wieder Schlagzeilen als Orte des Horrors mit langen Wartezeiten oder aggressiver Angehörigen und Patienten. Woran liegt das?

Raum- und Betriebskonzepte der Einheiten sind häufig hochgradig ineffizient und mit den immer weiter steigenden Anforderungen schlichtweg überfordert. Solche Horrormeldungen lassen sich vermeiden. Es ist eine Frage der Prozesse und Strukturen, die die Situation für Ärzte und Pflegekräfte in der Notaufnahme und für Patienten und ihre Angehörigen bestimmen. In den Unstrukturen der meisten Einrichtungen steckt mehr Ressource, als man durch die Einstellung von Personal je bereitstellen kann. 

Was kann man tun? Wie kann man Ärzten und Pflegekräften die Arbeit erleichtern?

Das fängt damit an, dass wir die Arbeit der Ärzte und Pflegekräfte effizienter gestalten müssen. Ineffiziente Strukturen kann man messen: Wieviel und wie lange telefoniert eine Pflegekraft oder Ärztin im Rahmen einer Schicht, im Rahmen der Bettensuche für Patienten? Wieviel laufen sie pro Schicht? Da gibt es Spitzenwerte von 20 Kilometern, die eine Pflegekraft pro Schicht absolviert hat. Allein durch die räumliche Gestaltung können wir die Laufwege der Pflegekräfte deutlich verkürzen. Es kann auch in der Notaufnahme nicht nur darum gehen, Patienten weiterzuvermitteln. Ärzte und Pflegekräfte mit ihrer großen Expertise sollten nicht gezwungen sein, ihre Zeit mit telefonieren und rennen zu verbringen. Wer Verantwortung hat für Patienten, fragt sich doch irgendwann, mache ich noch Arbeit am Patienten?

Sind nicht gerade die Notaufnahmen auf Effizienz angewiesen?

Viele Kliniken haben da eine große Lücke. Raum- und Betriebskonzepte sind häufig maximal ineffizient und entsprechend personalintensiv. Unstrukturen durch Personalaufbau zu beherrschen ist allerdings keine nachhaltige Lösung, denn Personal ist teuer und nur sehr begrenzt verfügbar. Im Vergleich zum Elektivgeschäft haben Notaufnahmen in den letzten Jahrzehnten nur eine sehr untergeordnete Rolle eingenommen und galten vielerorts als kostenintensiv und potenziell schlecht für das Image der Klinik. Das muss sich ändern, denn im Notfallgeschäft steckt viel Potenzial für wirtschaftliches Wachstum, was im Elektivgeschäft immer schwerer zu erreichen ist und dieser Trend wird durch die Ambulantisierung sicher weiter zunehmen. 

Was sollten die Kliniken tun?

Viele Kliniken haben verstanden, dass es um mehr geht als Chaosbewältigung und Neujustierung in ein paar Nischenbereichen. Sie versuchen, den gesamten Prozess in der Notaufnahme so zu gestalten, dass der Patient, der unsere Hilfe im Notfall braucht, ohne kritische Barrieren ins Haus kommt. Wenn wir Klinken hierzu beraten, beginnen wir zunächst mit einer Kapazitätsanalyse. Oft stellen sich selbst 20 Mio.€ teure Neubauten von Notaufnahmen als zu klein heraus. Wenn zu wenig Versorgungskapazitäten vorgehalten werden um die Patienten zu versorgen, kommt es regelhaft zu Überfüllungssituationen, dem sog. Crowding. Crowding korreliert mit Patientengefährdung und ist immer eine große Belastung für das gesamte Team der ZNA, die Patienten und Angehörigen und auch für den Rettungsdienst. Crowding führt häufig zu Abmeldungen der Einheiten, was auch als Stagnation des wirtschaftlichen Wachstums gewertet werden kann. Dabei sind die Zahlen an Patienten, die täglich in die Notaufnahme kommen, ziemlich konstant. Der Zulauf ist also kalkulierbar, ebenso der prozentuale Anteil an stationären Aufnahmen pro Klinik – und die Zahlen sollten bei der Planung der Termine für Patienten mit planbaren Behandlungen berücksichtigt werden, zumindest anteilig. Tatsächlich bleiben die Patienten der Notaufnahmen in den meisten Kliniken bei der Vergabe von Elektivterminen vollkommen unberücksichtigt, so dass es täglich zur Kollision der beiden Patientenströme kommen muss.

Der Patientenzulauf kann über die Ersteinschätzung und Umsetzung integrierter Notfallversorgung nachhaltig geregelt werden: Die Komplexität des Notfalls wird in der Ersteinschätzung erkannt. Komplex erkrankte Patienten werden von der Notaufnahme versorgt und niedrig komplexe Patienten können an den niedergelassenen Bereich, das eigene MVZ, die KV-Versorgungsstrukturen und/oder niedergelassene Kollegen weitergeleitet werden, wo sie auch adäquat abgerechnet werden können. Werden diese Patienten in der Notaufnahme versorgt, bleiben sie in der Regel ambulant und sind mit ca. 120 € unterfinanziert. Sie machen die Notaufnahmen also nicht nur voll, sondern auch teuer.

Wie reagieren Mitarbeiter und Patienten auf Umstrukturierungen zu effizienteren Strukturen in der Notaufnahme?

Es gibt valide Messgrößen, um nicht nur die Leistungsfähigkeit einer Einheit zu objektivieren, sondern zum Beispiel auch die Teamstimmung oder auch die Stimmung von Patienten und Angehörigen. Wir messen beispielsweise die Fluktuation in der Pflege und untersuchen, ob Umstrukturierung und endgültiges Konzept auf Kosten der Pflege geht oder die Situation der Pflegekräfte verbessert. Als wir im November 2020 mit dem Projekt in der Notaufnahme am Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus begonnen haben, betrug die Fluktuation in der Pflege etwas über 15 % pro Jahr. Jetzt stehen wir bei 2,4 % Fluktuation. Es gibt sogar eine Warteliste von Pflegekräften im Haus, die in der Notaufnahme arbeiten wollen. Bei den Patienten hatten wir durchschnittlich 0,7 Beschwerden pro Woche, heute sind wir bei 0,1 bis 0,2 Beschwerden. Auch hier verzeichnen wir also eine deutliche Verbesserung, was wir u.a. an den sehr kurzen Verweilzeiten festmachen. Exitblock und Crowding hatten wir seit Eröffnung kein einziges Mal, denn durch die anteilige Berücksichtigung der statistisch erwarteten Notfallpatienten pro Klinik ist der Patientenabfluss ins Haus jederzeit barrierefrei möglich, was sich nicht nur positiv auf Kennzahlen auswirkt, sondern natürlich auch auf die Stimmung von Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern.

Profitieren auch die Patienten von den Verbesserungen für die Pflegekräfte und Ärzte? Wie kann man für Patienten den Aufenthalt angenehmer oder weniger angstbesetzt gestalten?

Der Sichtkontakt der Pflegekräfte mit den Patienten ist das A&O in dem Konzept. Einwände beispielsweise von Datenschützern, die Patienten hätten in dieser Anordnung zu wenig Privatsphäre, sind realitätsfern. Patienten in der Notaufnahme haben ein einziges Bestreben: Sie wollen Gewissheit, dass sie wahrgenommen werden, und sie wollen jederzeit auf sich aufmerksam machen können, wenn es ihnen schlechter geht. Den Patienten den Blicken entziehen, die Notaufnahme nach dem Muster normaler Stationszimmer zu gestalten, läuft den Interessen aller Beteiligten, vor allem aber den Bedürfnissen der Patienten entgegen.

Auch für die Pflegekräfte, die diese Patienten versorgen, ist es sehr wichtig, die Patienten stets im Blick zu haben. Sie wollen an einem zentralen Punkt immer alle Patienten des eigenen Pflegebereichs sehen können – und dazu einen großen Teil des benachbarten Pflegebereichs. So kann auch bei Personalverschiebungen, wenn sie etwa im Schockraum gebraucht werden, das Monitoring aller Patienten aufrechterhalten werden. Kein Patient bleibt ungesehen zurück, und die Pflegenden müssen nicht 12 oder gar 20, sondern kaum mehr zwei Kilometer Laufwege pro Schicht absolvieren. 

Welche Gestaltungsmöglichkeiten können helfen, die Patientenströme besser zu steuern?

Man sollte nicht versuchen, einzelne Facetten zu optimieren. Das funktioniert in der Regel nicht. Notaufnahme kann immer nur dann wirklich funktionieren, wenn Zulauf, Durchlauf und Ablauf der Patienten ins Haus optimiert werden, also vom Zentralen Tresen über moderne Raum- und Betriebskonzepte bis zum modernen Belegungsmanagement. Nur eine oder auch zwei dieser Säulen zu bearbeiten reicht für ein auch wirtschaftlich nachhaltiges Ergebnis nicht aus. Also vom Zentralen Tresen über moderne Raum- und Betriebskonzepte bis zum modernen Belegungsmanagement. Ich würde weiterhin empfehlen, nicht auf eine politische Lösung für die aktuellen Probleme zu warten, so viel Zeit ist nicht. Man sollte jetzt anfangen und konzeptionell in erster Linie das berücksichtigen, was die Mitarbeitenden empfehlen, rückmelden und sich wünschen, die heute täglich in den Unstrukturen der Einrichtungen verhungern!

Für mich war ein wesentlicher Impulsgeber für dass, was innerhalb eines High Care Bereichs alles geht, 2013 die ukb-Klinik Marzahn. Stefan Wollschläger, der die Pflegeleitung der Rettungsstelle am ukb-Klinikum innehat, hat damals eine Holding-Station für Patienten, die auf die stationäre Übernahme warten, eingerichtet: ohne Trennwand, gegenüber dem immer besetzte Tresen der Pflegekräfte. Das war wirklich visionär und sehr offensiv nach den Bedürfnissen und Anforderungen der Pflegenden und der Patienten konzipiert. Rückmeldungen zu mangelnder Privatsphäre gab es nie.

Was kann man für die wartenden und besorgten Angehörigen tun?

Wir nutzen den Warteraum in der neuen Notaufnahme tatsächlich nur für Angehörige. Hier ist ein Konzept zur Akzeptanzförderung umgesetzt. Das beinhaltet einheitliche Kinobestuhlung - lassen Sie Wartende nicht aufeinander gucken. Bekommt einer schlechte Laune, befruchtet er schnell den gesamten Warteraum. Eine Raumtemperatur von 21 Grad und Ambient Light in tief lila sorgen für Entspannung. Dazu gibt es Wasser mit und ohne Kohlensäure und eine Kaffeemaschine mit Mahlwerk. Es gibt eine Möglichkeit, sein Smartphone zu laden und es werden Warteraumvideos angeboten und damit meinen wir keine Kriegsberichterstattung auf ntv. Die Sichtachse der Wartenden ist auf die Anmeldung ausgerichtet. Über eine anonymisierte Prozessvisualisierung kann jeder nachvollziehen, was in der Notaufnahme passiert und dass die Versorgung zum Beispiel der eigenen Mutter voranschreitet. Darüber hinaus versuchen wir die Angehörigen mit in den Versorgungsprozess einzubeziehen und das Procedere transparent und nachvollziehbar zu machen. Das ist insbesondere bei wartenden Eltern von zu versorgenden Kindern von ganz besonderer Bedeutung.  

Die Reform der Notfallversorgung sieht „integrierte Notfallzentren (INZ) vor, wozu die Notaufnahme des Krankenhauses, eine KV-Notfallpraxis sowie ein „Tresen“ als zentrale Entscheidungsstelle gehören sollen. Ist damit nicht auch eine offene Struktur der Notaufnahme intendiert?

Nein, das ist sowohl offen, teiloffen als auch in geschlossenen Konzepten umsetzbar. Wichtig ist aber dass die Häuser mit der Umsetzung integrierter Notfallversorgung heute beginnen, auch unabhängig vom angesprochenen Referentenentwurf, denn hier steckt für viele Häuser eine Riesenchance. Für die konsequente Umsetzung braucht es Partner im niedergelassenen Bereich oder eine entsprechende MVZ-Struktur, die heute aufgebaut werden muss. Der Aufbau solcher Netzwerke ist zeitaufwendig und viele Häuser erkennen noch nicht wirklich die Bedeutung der Notfallaufnahme und die Rolle, die die Notfallmedizin in Zukunft spielen wird. Das Wegbrechen des Elektivgeschäfts im Krankenhaus schreitet voran. Die Bedeutung der Notaufnahme für das wirtschaftliche Überleben vieler Häuser wird immer größer.

Bedienen Sie damit nicht die böse Unterstellung beispielsweise des Bundesgesundheitsministers, Kliniken würden über die Notaufnahmen Patienten in die Klinik ziehen, die gar keine stationäre Behandlung brauchen – nur, um diese abrechnen zu können?

Die Unterstellung hat nichts mit der Realität zu tun. Es macht überhaupt keinen Sinn, Patienten unnötig stationär aufzunehmen. Die Fallschwere und die Komplexität der Erkrankung kann sehr schnell objektiviert werden, und der Medizinische Dienst der Krankenkassen ist clever und streicht sehr schnell einfach die Mittel für die aus seiner Sicht unnötige Behandlung.

Was wir brauchen, ist ein Paradigmenwechsel in den Kliniken: Wir müssen einsehen, dass der überwiegende Patientenstrom nicht mehr über das Elektivgeschäft in die Häuser kommt, sondern über das Notfallgeschäft. Die Kliniken müssen sich jetzt neu aufstellen und für effektive Strukturen in der Notaufnahme sorgen. Es müssen ausreichend notfallmedizinische Behandlungsressourcen zur Verfügung stehen, damit Rettungsdienste mit Patienten mit komplexem Behandlungsbedarf nicht weggeschickt werden müssen. Die Notaufnahme muss als hochkompetente Schnittstelle organisiert werden, sonst verlieren die Rettungsdienste das Vertrauen in das Haus. Aber das müssen wir selber tun, das wird kein Gesetzgeber für uns regeln.

Das Interview führte Katrin Rüter, Chefredakteurin