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Interviews und Meinungen

Mythen und Fakten in gesundheitspolitischen Debatten


Quelle: OECD; eigene Darstellung


Quelle: Bundesministerium für Gesundheit; Eigene Darstellung

Wie versucht wird, mit Zahlen-Jonglage Eulen nach Athen zu tragen

von Matthias Einwag, Helge Engelke und Andreas Janßen

Die aktuelle Diskussion um die Krankenhausstrukturreform wird derzeit von zwei Themen dominiert. Zum einen ist es unstrittig, dass vor Inkrafttreten der Reformmaßnahmen zunächst akute Hilfe für die Krankenhäuser notwendig ist, weil die Unterfinanzierung der letzten Jahre zu flächendeckenden Notlagen geführt hat. Dies wurde zuletzt auch durch eine bemerkenswerte Analyse des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) bestätigt (IDW 2024). Zum anderen werden immer wieder strittige Aussagen zu angeblichen Fakten über die Ausstattung, Qualität und Anzahl der Behandlungsfälle in den Krankenhäusern getroffen, um Begründungen für Strukturveränderungen herleiten zu können. Dieser Artikel befasst sich mit einigen dieser durchaus erstaunlichen Berechnungen aus der wissenschaftlichen Ecke und versucht, diese einem Faktencheck zu unterziehen.

Um es vorweg zu sagen: auch die Autoren erkennen ausdrücklich an, dass die Krankenhausstrukturen dringend reformiert werden müssen, um im Zeichen von Fachkräftemangel, Demografie und medizinisch-technischem Fortschritt weiterhin eine flächendeckend optimale Krankenhausversorgung auf hohem Niveau aufrechterhalten zu können. Dieses Bekenntnis teilen alle Entscheider, die in der Krankenhauswelt Verantwortung tragen. Insofern bedarf es keiner mühsam herbeigerechneten Statistiken, mit denen angebliche Versorgungsdefizite behauptet werden, um die notwendigen und sinnvollen Transformationsprozesse zu unterstützen. Die Eulen sind längst in Athen gelandet. Es ist vielmehr zu befürchten, dass die stets verbreiteten unsachgerechten Auslegungen und Berechnungen zu mehr Verwirrung und zu Widerständen und Protesten führen, anstatt zu einem konstruktiven Dialog beizutragen.

Wissenschaftliches Arbeiten besteht daraus, aufgestellte Thesen kritisch zu hinterfragen und sie nur so lange als gültig zu akzeptieren, bis sie widerlegt wurden. In diesem Sinne wird nachfolgend anhand von einzelnen aktuell kursierenden Mythen und Behauptungen der gesundheitspolitischen Debatten rund um die Krankenhausreform der Versuch einer Versachlichung unternommen.

Krankenhäuser - ein zu teures Allgemeingut?

Regelmäßige Aussagen zur Finanzierung und Kosten deutscher Krankenhäuser kursieren in den politischen Debatten rund um die Krankenhausreform. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach lässt nicht davon ab, stets zu behaupten, Deutschland habe die höchsten Krankenhausausgaben innerhalb der EU (Lauterbach 2023a; Lauterbach 2023b). Wie die DKG bereits in ihrem Faktencheck offengelegt hatte, liegt Deutschland bei den Krankenhausausgaben Pro-Kopf im Mittelfeld der europäischen Länder. Auch behauptet der Bundesgesundheitsminister gerne, Deutschland sei europäische Spitze, was die Krankenhausausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) anbelangt (Lauterbach 2023c). Auch diese stets im politischen Diskurs am Leben gehaltene Aussage lässt sich anhand der öffentlich verfügbaren „Health Statistics“ der OECD-Datenbank nachweislich widerlegen und im Zeitverlauf der letzten 21 Jahre darstellen (OECD 2024).

Anhand der Abbildung 1 lässt sich deutlich erkennen, dass Deutschland keineswegs europäischer Spitzenreiter bezogen auf die Krankenhausausgaben ist und auch nie war. Gleichzeitigt sieht man, dass die anderen OECD-Länder in den vergangenen Jahren ihre prozentualen Ausgaben im Vergleich zu Deutschland deutlich mehr erhöht haben. Dementsprechend unterstreichen die OECD-Daten eher eine Unterfinanzierung des deutschen Krankenhauswesens.

Zusammenfassend zeigen die OECD-Daten deutlich, dass die Krankenhausausgaben in Deutschland nicht europäische Spitze sind, weder innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, noch in europäischen Ländern außerhalb der EU. Im Gegenteil, wir müssen eher davon ausgehen, dass wir Schlusslicht in der Bereitstellung einer auskömmliche Krankenhausfinanzierung sind.

Wenn in Zukunft über steigende Gesundheitsausgaben gesprochen wird, sollte genau beobachtet werden, woher diese resultieren. Im jährlich veröffentlichen Krankenhausreport von 2022 haben die Autoren anhand der DESTATIS-Daten darstellen können, wie sich die Gesundheitsausgaben über die Zeit entwickelt haben und herausgestellt, dass im Jahr 1997 in etwa 27,1 % der Gesundheitsausgaben auf Krankenhäuser verteilt waren, während es 2020 nur 26 % waren (Augurzky et al. 2022). Der hauptsächliche Ausgabentreiber der gesamten Gesundheitsausgaben ist die Pflege, dessen prozentualer Anteil an den Gesundheitsausgaben Jahr für Jahr steigt.

Das gleiche Ergebnis erhält man, wenn man sich die Krankenhausausgaben gemessen an den GKV-Leistungsausgaben der letzten 15 Jahre anschaut (BMG 2023). Auch hier wird des Öfteren im öffentlichen Raum postuliert, man gebe zu viel für Krankenhausbehandlungen aus und stünde einem fortwährenden Kostenanstieg gegenüber.

In absoluten Zahlen mag dies zutreffen, in relativen Zahlen hingegen hat sich seit 2007 bis heute der prozentuale Anteil verringert. So machten die Ausgaben der Krankenhausbehandlung für die GKV im Jahr 2007 rund 35% der Leistungsausgaben der GKV aus. Im letztverfügbaren Jahr 2022 beträgt dieser Anteil 32%, weshalb auch hier eine relative Ausgabenabnahme zu verzeichnen ist.

Zusammenfassend legen diese Zahlen eindeutig nahe, dass die genannten Behauptungen für die Notwendigkeit einer Krankenhausreform nicht auf Grundlage zu hoher Krankenhausausgaben zu begründen sind. Gleichzeitig zeigt der internationale Vergleich, dass das Argument der Effizienzsteigerung durch die Krankenhausreform durch eine Umverteilung der Gelder auf weniger Standorte sich nur bedingt hält, vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass die offensichtliche Unterfinanzierung des Systems in Effizienzmängeln resultiert und wir mehr Mittel bereitstellen sollten, wenn wir perspektivisch ein Versorgungsniveau auf Höhe unserer europäischen Nachbarn haben wollen.

Versorgungsdefizite in der Schlaganfallversorgung?

Die Krankenhausreform wird auch mit vermeintlichen Qualitätsdefiziten in der aktuellen Versorgung begründet. Eines der zentralen Argumente betraf dabei die Schlaganfallversorgung. Immer wieder wurde und wird – auch von höchsten Repräsentanten der Regierungskommission – behauptet, dass die Hälfte der Krankenhäuser, die Schlaganfälle behandeln, nicht dafür ausgestattet seien (Bschor 2023). Auf diesen vermeintlichen Missstand reagiert der Zuhörer oder die Zuhörerin naturgemäß empört und stimmt mit dem Vortragenden darin überein, dass eine Krankenhausreform dringend notwendig sei, um diesen Zustand schnellstmöglich zu beenden. Nun liegen zur Schlaganfallversorgung aber umfangreiche Daten vor, die zu ganz anderen Schlussfolgerungen führen. In Baden-Württemberg gibt es zum Beispiel bereits seit 2004 ein Landeskonzept zur Schlaganfallversorgung, das von den Krankenkassen, dem Sozialministerium und der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) gemeinsam entwickelt wurde (QiG BW GmbH 2004). Die Verantwortlichen haben sich zusätzlich auf ein begleitendes Qualitätssicherungsverfahren verständigt, das gesetzlich gar nicht vorgesehen war (QS Schlaganfall). Kern des Qualitätssicherungsverfahrens ist, dass mindestens 90 % der Schlaganfallpatienten in einer Schlaganfalleinheit nach dem Landeskonzept behandelt werden sollen. Die Ergebnisse des Verfahrens werden durch die Qualitätssicherung im Gesundheitswesen in Baden-Württemberg GmbH (QiG) regelmäßig veröffentlicht (QiG BW GmbH 2024).

Misst man die obige Aussage, wonach die Hälfte der Krankenhäuser, die Schlaganfälle behandeln, dafür nicht ausgestattet sind, an den Qualitätssicherungsdaten aus Baden-Württemberg, so wird deutlich: Die Aussage mag statistisch möglicherweise nicht falsch sein. Sie ist aber zutiefst irreführend und schlicht unwissenschaftlich, weil sie – vorsätzlich oder fahrlässig - ein völlig falsches Bild der Versorgungssituation zeichnet.

Wie kann es zu solch widersprüchlichen Ergebnissen kommen? Entscheidend ist, dass es hier nicht auf die Betrachtung der Anzahl der Krankenhäuser („mit adäquater Schlaganfallausstattung“ vs. „ohne adäquate Schlaganfallausstattung“) ankommt. Es ist entscheidend, dass möglichst viele Schlaganfallpatienten in den Häusern mit einer adäquaten Ausstattung versorgt werden, also in einer qualifizierten Schlaganfalleinheit. Und das ist der Fall! Dazu haben die Experten aus Krankenhäusern, Sozialministerium, Krankenkassen und Medizinischen Dienst (MD) in Baden-Württemberg den Zielwert von 90% definiert. Wenn 90% der Patienten mit Schlaganfall auf einer ausgewiesenen Schlaganfallstation behandelt werden, ist eine sehr gute Versorgungssituation erreicht. Der Ist-Wert betrug im Jahr 2023 93,37% (2022: 92,31%), lag also deutlich über dem Zielwert. Wenn man die Patienten, die auf einer Intensivstation behandelt werden, hinzunimmt, steigt der Wert auf 95,87% (2022: 95,34%). Das für Baden-Württemberg vereinbarte Qualitätsziel zur Schlaganfallversorgung wurde im Jahr 2023 (und bereits 2022) deutlich übertroffen. Die Versorgung von Schlaganfallpatienten in Baden-Württemberg ist sehr gut.

Die knapp 4 % der Patienten, die in nicht-Schlaganfalleinheiten oder Intensivstationen behandelt werden, verteilen sich auf relativ viele Krankenhäuser und entsprechend niedrigen Fallzahlen. Damit ist die von den Regierungskommissionsmitgliedern getätigte Aussage statistisch vielleicht sogar zutreffend. Diese Aussage ist aber ein Paradebeispiel dafür, dass eine statistische Auswertung hinterfragt werden muss, da andernfalls öffentlich verbreitete Aussagen bei Nicht-Experten zu völlig falschen Rückschlüssen führt. Denn anders als von den Regierungskommissionsmitgliedern suggeriert, ist die Versorgung von Schlaganfallpatienten sehr gut und eine Krankenhausreform damit zu begründen schlicht unseriös.  Da die Regierungskommission unzweifelhaft über eine hohe wissenschaftliche Kompetenz verfügt, ist nur schwer vorstellbar, dass dieser Sachverhalt nicht bekannt war. Dennoch wurden dem Vorsitzenden und weiteren ausgewählten Mitgliedern der Regierungskommission (und Minister Lauterbach) die Auswertungsergebnisse zur Schlaganfall-Qualitätssicherung in Baden-Württemberg im März 2023 mit persönlichem Anschreiben zur Verfügung gestellt. Eine – über eine Eingangsbestätigung hinausgehende - Antwort darauf liegt bis heute nicht vor.

Wie geht es weiter?

Man könnte die Liste der Behauptungen, die dringend einem Faktencheck unterworfen werden sollten, sicher noch endlos fortführen. Aber ist das zielführend? Anstatt reflexhaft die immer wieder gleichen altbekannten Thesen in die – strittige – Diskussion zu stellen, sollten wir unsere Kräfte lieber zur konkreten Verbesserung der Versorgung für eine regionale kooperative aufeinander abgestimmte Versorgungsstruktur bündeln und einsetzen.

Jedenfalls wäre es eine klare Erwartungshaltung aller Menschen, die sich heute – und darüber hinaus – für das Patientenwohl in den Krankenhäusern engagieren, dass sich Politik und insbesondere auch Wissenschaft mit Perspektiven und Innovationen befassen, anstatt immer wieder analog der alten Denkmuster bereits bekannte Zahlen aus den Kellern und Archiven zu holen, um sie mit den verstaubten althergebrachten jahrzehntealten Thesen immer und immer wieder abzugleichen. Hier besteht ein mindestens ebenso dringender Handlungsbedarf wie der Bedarf an Strukturveränderungen in den Krankenhäusern.

Anschrift der Verfasser

Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergische Krankenhausgesellschaft (BWKG)/Helge Engelke, Verbandsdirektor/Andreas Janßen, Trainee, Niedersächsische Krankenhausgesellschaft (NKG)

Literatur

Augurzky et al. (2022): Krankenhaus Rating Report 2022. 1. Auflage 2022, medhochzwei Verlag

ISBN online: 978-3-86216-917-7. Online verfügbar unter: online-bibliothek.medhochzwei-verlag.de (Abgerufen am 24. April 2024).

BMG, Bundesministerium für Gesundheit (2023): Kennzahlen, Daten, Bekanntmachungen. 6. November 2023. Online verfügbar unter: www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenversicherung/zahlen-und-fakten-zur-krankenversicherung/kennzahlen-daten-bekanntmachungen/ (Abgerufen am 24. April 2024).

Bschor, Tom (2023): Das Gesundheitssystem im Krisenmodus? Baustellen und Lösungsansätze. 8. Landeskongress Gesundheit Baden-Württemberg. 3. Februar 2023.

IDW, Institut der Wirtschaftsprüfer (2024): Krankenhausfinanzierung auf dem Prüfstand. 6. März 2024. Online verfügbar unter: www.idw.de/IDW/Medien/Positionspapier/Downloads-Trendwatch/IDW-Positionspapier-Krankenhausfinanzierung-20032024-print.pdf (Abgerufen am 24. April 2024).

Lauterbach, Karl W. (2023a): Ohne Reform würden 25% der Krankenhäuser sterben. Interview mit der Bildzeitung. 1. Juni 2023. Veröffentlicht auf der Internetseite des BMG. Online verfügbar unter: www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/interviews/interview/bild-01-06-2023-krankenhausreform.html (Abgerufen am 24. April 2024).

Lauterbach, Karl W. (2023b): Bundesratssitzung am 24. November 2023. Online verfügbar unter: www.dkgev.de/dkg/presse/faktencheck/ (Abgerufen am 24. April 2024).

Lauterbach, Karl W. (2023c): Zeit Streitgespräch vom 16.06.2023. Veröffentlicht auf der Internetseite des BMG. Online verfügbar unter: www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/interviews/interview/die-zeit-15-06-2023-krankenhausreform (Abgerufen am 24. April 2024).

QiG BW GmbH, Qualitätssicherung im Gesundheitswesen Baden-Württemberg (2004): QS Schlaganfall (80/1). Online verfügbar unter: www.qigbw.de/qs-verfahren/qs-schlaganfall-80/1 (Abgerufen am 24. April 2024).

QiG BW GmbH, Qualitätssicherung im Gesundheitswesen Baden-Württemberg (2024): Landesauswertungen zu den Landesverfahren. Online verfügbar unter: www.qigbw.de/ergebnisse/landesauswertungen-landesverfahren (Abgerufen am 24. April 2024).

OECD, Organization for Economic Co-operation and Development (2024): OECD Health Statistics 2023. Online verfügbar unter: stats.oecd.org (Abgerufen am 24. April 2024).