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Interviews und Meinungen

Im Gespräch mit Dr. Marlen Melzer, stellv. Gruppenleiterin „Arbeitsgestaltung bei personenbezogenen Dienstleistungen" bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)


Dr. Marlen Melzer, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Foto: Baldauf&Baldauf

Ist die Belastung der Mitarbeiter in Kliniken gestiegen?

Wir sehen - anhand von Daten aus eigenen Befragungen, aber auch solchen anderer Forschender - seit Jahrzehnten, dass beruflich Pflegende einer Kombination aus hoher psychischer und physischer Belastung ausgesetzt sind. Die hohe Arbeitsintensität zeigt sich hier als ein ganz konsistent nachweisbarer Aspekt der Tätigkeit:    Pflegende geben unter anderem an, häufig sehr schnell bzw. unter starkem Termin- oder Leistungsdruck arbeiten zu müssen. Auch die Notwendigkeit, mehrere Aufgaben gleichzeitig „im Auge behalten“ zu müssen, wird von vielen berichtet. Hinzu kommen ungünstige Arbeitszeitbedingungen wie Schicht- bzw. Wochenendarbeit, hohe körperliche Belastung – etwa durch häufiges Heben und Tragen schwerer Lasten – und weitere spezifische Faktoren wie die Notwendigkeit zum Umgang mit Biostoffen. Zu letzteren gehört auch das SARS-CoV-2-Virus – dem Pflegende während der Pandemiezeit in besonderem Maße ausgesetzt waren. Damit ging nicht nur eine höhere Infektionsgefahr einher. Die Angst vor eigener Ansteckung oder einer Übertragung des Virus auf andere Menschen war für Pflegende auch eine zusätzliche psychische Belastung. Gleiches gilt für die pandemiebedingt in einigen Bereichen weiter gestiegene Arbeitsintensität für pflegerisches und ärztliches Personal, die mit dem zum Teil deutlich höheren Aufkommen an Patientinnen und Patienten und zusätzlichen Personalausfällen aufgrund von Covid-19-Erkrankung oder Quarantäne einherging. 

Neben diesen Veränderungen bei bekannten Belastungsfaktoren brachte die Pandemie aber auch neue Belastungsfaktoren mit sich. Beschäftigte in Kliniken musste auf einmal über den gesamten Schichtverlauf hinweg FFP2- bzw. FFP3-Masken tragen oder ihre Hände häufiger desinfizieren – um nur einige zu nennen.

Zusammengefasst lässt sich damit festhalten: Die Belastungssituation hat sich während der Pandemie verändert. Vorher konnten wir über längere Zeiten hinweg konstant hohe körperliche und psychische Belastung beobachten.

Pflegende und Ärzte stehen nicht erst seit Corona unter besonderer Belastung. Welche Anforderungen stellt dies an das BGM im Krankenhaus?

An erster Stelle sollte die Durchführung der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung stehen. Nur so ist es möglich, die für einen bestimmten Arbeitsplatz spezifischen Gefährdungen zu ermitteln - und daraufhin zielgerichtet Maßnahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements zu ergreifen. Um das zu unterstützen, wurden in der Vergangenheit unterschiedliche

Instrumente bzw. Checklisten entwickelt, die im Zuge der „Konzertierten Aktion Pflege“ zusammengestellt worden sind. Einige dieser sind speziell für Arbeit in Kliniken konzipiert worden.

Im besten Falle gehen diese über die Analyse der Arbeitsbedingungen hinaus und unterstützen sie den Prozess der Gefährdungsbeurteilung auch in den späteren Phasen der Maßnahmenentwicklung, -umsetzung und -bewertung. Ziel sollte ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess sein, der es ermöglicht, auch neu auftretende Belastungsfaktoren schnell zu identifizieren und geeignete Konsequenzen für das Betriebliche Gesundheitsmanagement abzuleiten – so, wie es beispielsweise die Covid-19-Pandemie erforderte. In Ergänzung dessen können – je nach Bedarfslage – auch Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung und/ oder des Betrieblichen Eingliederungsmanagements hilfreich sein. Zu ersteren – die freiwillige Angebote des Arbeitgebers sind - gehören beispielsweise Angebote aus den Bereichen Bewegungsförderung oder gesunde Ernährung. Mit letzteren sollen Beschäftigte unterstützt werden, die innerhalb von 12 Monaten mehr als 42 Tage arbeitsunfähig waren und wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Ganz wichtig ist bei alledem eine möglichst hohe „Anbindung“ des BGM innerhalb der Einrichtung, denn: Betriebliches Gesundheitsmanagement macht man nicht „nebenbei“! Es kostet Zeit und andere Ressourcen, die seitens der Leitung zur Verfügung gestellt werden müssen.

Gibt es Verbesserungen, hat man aus den Erfahrungen der Pandemie gelernt?

Wir kennen hierzu keine repräsentativen Befragungen, aber wir haben im Zuge eines Projektes zu Pandemiemanagement in stationären Pflegeeinrichtungen den Eindruck gewonnen, dass viele Einrichtungsverantwortliche für die Notwendigkeit von Vorkehrungen zum Umgang mit Pandemien – oder Krisen im weiteren Sinne – jetzt stärker sensibilisiert sind und entsprechende Aktivitäten initiieren. Dazu gehört zum Beispiel das Bevorraten von Schutzmaterialien oder die Prüfung von Pandemieplänen hinsichtlich ihrer Praktikabilität.

Die Bedeutung guter Kommunikation und Kooperation - hausintern oder mit anderen Einrichtungen – ist unserem bisherigen Erkenntnisstand zufolge stärker in den Fokus gerückt. Um Kliniken und anderen stationären Einrichtungen des Gesundheitswesens möglichst konkrete Empfehlungen geben zu können, wie diese aussieht, werden wir im kommenden Jahr Workshops durchführen. Gemeinsam mit Personen aus der pflegerischen Praxis und Forschung, aber auch mit Vertreterinnen und Vertretern von Berufsgruppen, in denen Krisenmanagement eine wichtige Rolle spielt, wollen wir aus den bisherigen Erfahrungen hier „Lessons learned“ für künftige Pandemiesituationen ableiten.

Der demografische Wandel macht auch vor Kliniken nicht halt. Nicht nur Patienten, auch Mitarbeiter werden älter. Was bedeutet dies für die Anforderungen an das Gesundheitsmanagement?

Generell ist gut gestaltete Arbeit, die den in internationalen Normen fixierten Gestaltungsgrundsätzen entspricht, für alle Altersgruppen wichtig und gesundheitsförderlich. Aus der Forschung zu altersdifferenzierter Führung wissen wir aber, dass den Bedürfnissen bzw. Bedarfslagen älterer Beschäftigter durch weitere Maßnahmen oder Angebote noch mal besser entsprochen werden kann. Hierzu gehören etwa Möglichkeiten, mehr Pausen zu machen. Auch Jobsharing-Modelle oder andere Modelle der Arbeitszeitverkürzung können ein Weg sein, die Arbeitsbedingungen für ältere Beschäftigte zu verbessern. Oft ist das – vor allem wegen des Personalengpasses - nicht so einfach umsetzbar bzw. wird es noch kritisch gesehen. Angesichts des weiter sinkenden Pflegepersonalangebotes gehe ich jedoch davon aus, dass diese Angebote künftig an Bedeutung gewinnen und Beschäftigten häufiger gemacht werden – und auch jüngeren Beschäftigten, da sich ergonomisch gestaltete Pausen und Arbeitszeitsysteme positiv auf das arbeitsbezogene Wohlbefinden und die Gesundheit auswirken.

In Kliniken ist die psychische Belastung, auch wegen des täglichen Umgangs mit Krankheit und Tod, sehr hoch. Wie ist dem entgegenzuwirken?

Der Umgang mit Krankheit und Tod gehört zum Pflegeberuf dazu. Um die damit verbundene emotionale Belastung „aufzufangen“ sind auf organisationaler bzw. Teamebene vor allem Gesprächsangebote sinnvoll.   Ein gutes Team und/ oder eine aufmerksame und im besten Falle geschulte Leitungskraft sind hier sehr wertvoll. Flankierend sind professionelle Angebote -wie Supervision zu empfehlen. Das gleiche gilt für den Fall von Gewalt gegenüber Pflegepersonal. Die Dunkelziffer ist hier sehr hoch. Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen erfassen nur Fälle, die gemeldet werden. Das Problem ist: Wo fängt Gewalt an? Was, wenn ein dementer Patient übergriffig wird, der die Situation womöglich gar nicht versteht? Das sind für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sehr belastende Situationen. Auch hier kann man arbeitsorganisatorische Maßnahmen ergreifen. Wichtig ist vor allem, darüber zu sprechen und es nicht auf sich beruhen zu lassen.

Emotionale Belastung ist aber nur ein Aspekt psychischer Belastung in Kliniken. Weitere sind zum Beispiel die eingangs benannten: Hohe Arbeitsintensität, ungünstige Arbeitszeit-Bedingungen, hohe physische Belastung und so fort. Einem Teil dieser kann durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen wirksam begegnet werden. So können feste Vertretungsregelungen für Pausen beispielsweise dafür sorgen, dass weniger Pausen „ausfallen“ – was eine häufige Folge hoher Arbeitsintensität ist. Potenziell gesundheitsgefährdender körperlicher Belastung kann durch Regelungen dazu begegnet werden, in welchen Fällen „standardmäßig“ zu zweit gearbeitet wird – etwa beim Lagern von Patientinnen oder Patienten mit hohem Körpergewicht.

Diese Maßnahmen sind aber unbedingt durch Aktivitäten zu ergänzen, die auf eine Verbesserung der Personalausstattung - in Kliniken und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens – zielen, denn sie können das seit langem bestehende und unter anderem in den „Fachkräfteengpassanalysen“ der Bundesagentur für Arbeit gut dokumentierte Missverhältnis von Pflegebedarf und -angebot nicht kompensieren. 

Ist das Bewusstsein für BGM gestiegen in den vergangenen Jahren?

Ohne dies durch belastbare Daten belegen zu können: Ich gehe davon aus, dass es gestiegen ist. Man spricht ja von der Pandemie auch als einem „Brennglas“, das viele Probleme der stationären Versorgung deutlich hervorgehoben hat. Die Notwendigkeit, diesen mit geeigneten Maßnahmen entgegenzuwirken, sollte deutlich geworden sein – auch deshalb, weil viele Pflegende während oder nach der Pandemie den Beruf verlassen haben, die aber dringend gebraucht werden! Beifall genügt nicht – auch wenn Wertschätzung wichtig ist. Ohne eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen wird es nicht gelingen, das dringend benötigte Pflegepersonal im Beruf zu halten, Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen – oder sie in den Beruf zurückzuholen. Im Rahmen einer Studie mit dem Titel „Ich pflege wieder, wenn…“ wurden 12 700 ehemalige Pflegekräfte, die aus dem Beruf ausgestiegen sind oder in Teilzeit arbeiten, da zu befragt, unter welchen Bedingungen sie wieder in den Beruf zurückkehren beziehungsweise „Stunden aufstocken“ würden. Die Ergebnisse wurden im Mai des vergangenen Jahres veröffentlicht und zeigen: Kollegialität, wertschätzende Führung und verlässliche Arbeitszeiten sind Faktoren, die maßgeblich dazu beitragen könnten, eine substanzielle Menge an ausgebildetem Pflegepersonal in den Beruf zurückzuholen. Hier sollte Betriebliches Gesundheitsmanagement demnach ansetzen.

Unerlässlich sind – und das darf hier keinesfalls ungesagt bleiben – darüber hinaus aber auch Verbesserungen der Rahmenbedingungen pflegerischer Arbeit. Eine bedarfsgerechte Personalbemessung war in der gerade benannten Studie der am häufigsten geäußerte „Motivator“ für eine Rückkehr in die berufliche Pflege – und ist damit nicht nur eine Kernvoraussetzung für gesundheitsförderliches Arbeiten in der Pflege, sondern auch für die Sicherstellung einer angemessenen Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf.

Was können Kliniken tun?

Wirklich unbedingt erforderlich für ein professionelles Betriebliches Gesundheitsmanagement ist zunächst eine Gefährdungsbeurteilung - als Führungsinstrument und Planungsgrundlage für die Organisation der Arbeitsabläufe. Das wird in Kliniken weitgehend flächendeckend auch gemacht. Diese darf aber keine reine „Beurteilung“ bleiben, sondern muss auch die Ableitung, Umsetzung und Überprüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen umfassen - und zwar partizipativ unter Einbeziehung der Mitarbeitenden.

Das machen dann schon weniger Einrichtungen, was auch wiederum mit dem notorischen Zeitproblem im Gesundheitswesen zu tun hat. Der Personalmangel führt dazu, dass kaum Kapazitäten für die Auseinandersetzung mit Arbeitsbedingungen vorhanden sind.  Hilfreich sind angesichts dessen die Unterstützungsangebote der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen. Allerdings ist auch für deren Anwendung bzw. Umsetzung Zeit erforderlich, die seitens einer Einrichtung „freigemacht“ werden muss. Das geschieht nur dann, wenn das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement weit oben auf der „Agenda“ der Führungskräfte steht. Wichtig für einen gelingenden Verbesserungsprozess sind darüber hinaus natürlich etablierte Besprechungsformate, in denen man das Thema immer wieder auf die Agenda setzen kann.

Wo gibt es aus Sicht der BAuA Handlungsbedarf in Bezug auf das Betriebliche Gesundheitsmanagement im Krankenhaus?

Wichtig ist, Betriebliches Gesundheitsmanagement nicht mit Betrieblicher Gesundheitsförderung gleichzusetzen. Um Maßnahmen bedarfsgerecht auswählen zu können, bedarf es zunächst einer umfassenden Analyse der Arbeitssituation – aus der dann möglichst gemeinsam mit dem betroffenen Beschäftigten bestehender Handlungsbedarf abgeleitet wird. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat vor einigen Jahren ein Instrument publiziert, das diesen Prozess strukturiert und systematisiert: Den Leitfaden „Gute Stationsorganisation“. Anhand von Checklisten zu vierzehn Aspekten der Arbeitsorganisation wird dabei zunächst bestehender Handlungsbedarf ermittelt. Anschließend werden Pflegeteams durch eine Anleitung zum Vorgehen dazu motiviert, gemeinsam an Verbesserungen zu arbeiten.

Im Hinblick auf ein derart systematisches Vorgehen ist in Kliniken oft noch „Luft nach oben“. Es ist aber wichtig, da Obstkörbe und Sportangebote – klassische Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung – oft nicht da ansetzen, wo der Schuh am meisten drückt.