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Interviews und Meinungen

„Die Vorschläge der Kommission brauchen einen Realitätscheck“


Foto: Kevin Kuka/Vivantes

Vivantes-Chef Johannes Danckert analysiert die geplante Gesundheitsreform der Bundesregierung und kommt teilweise zu ernüchternden Ergebnissen

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach plant eine große Krankenhausreform, spricht selbst von einer „Revolution“. Die Kliniken sollen in Level eingeteilt, die Finanzierung über Fallpauschalen und Vorhaltekosten gewährleistet werden, 128 Leistungsgruppen sind geplant. Wie würden sich diese Pläne auf die Vivantes-Kliniken auswirken?

Die Ziele der Reform sind grundsätzlich richtig. Aber die konkrete Zuordnung der Leistungsgruppen zu den verschiedenen Levels muss man sich noch einmal genau ansehen. Da gibt es noch viele Widersprüche. Sie scheinen mir eher auf Flächenländer zugeschnitten zu sein als auf Stadtstaaten und Ballungsräume. Gerade in Berlin haben wir eine große Trägervielfalt und eine gewachsene Arbeitsteilung mit funktionierenden Kooperationen. Das ist eine Stärke, kein Manko. Wendet man aber das Kleingedruckte im Kommissionsvorschlag auf Berlin an, kommen Absurditäten dabei heraus: Das St.-Joseph-Krankenhaus, eine der größten Geburtskliniken Deutschlands, würde einem Level zugeordnet, welches keine Geburtskliniken vorsieht, weil es bestimmte andere Fachbereiche nicht anbietet. Das Unfallkrankenhaus Berlin könnte keine Brandverletzten mehr behandeln, weil es keine Onkologie betreibt. Hieran zeigt sich, dass Bereiche in einen Zusammenhang gebracht werden, für die medizinisch keine Notwendigkeit besteht.

Was für Berlin im Allgemeinen gilt, spiegelt sich bei Vivantes: Würde man die Kriterien der Reformkommission 1:1 auf Vivantes umlegen, hätten wir mit Neukölln und Friedrichshain noch zwei Kliniken der Maximalversorgung auf Level III, weitere zwei Kliniken der mittleren Stufe auf Level II. Vier Kliniken wären laut den Kriterien nur noch Grundversorger, weil sie bestimmte Leistungsgruppen nicht abdecken. Gleichzeitig wird dort heute in vielen Bereichen anerkannte Hochleistungsmedizin betrieben. So bietet Spandau zum Beispiel eine Chirurgie auf Spitzen-Niveau mit anerkannten Zentren und Spezialisten an. Das Klinikum Am Urban ist Teil unseres standortübergreifenden Prostatazentrums und betreibt ein zertifiziertes Brustzentrum. Das Klinikum Kaulsdorf ist unverzichtbar als einziger Anbieter von Psychiatrie und Gerontopsychiatrie in seinem Stadtbezirk. Es gibt viele weitere Beispiele dieser Art. Vivantes bietet heute eine ausgewogene Mischung aus Grundversorgung in der Fläche und Spitzenmedizin in standortübergreifenden Zentren an. Das ist Ergebnis eines jahrelangen strategischen Prozesses und dient der Gesundheitsversorgung der ganzen Stadt. Aber das wird im vorliegenden, ersten Entwurf der Reformvorschläge nicht berücksichtigt und das gilt nicht nur für Vivantes, sondern für viele andere Träger in Berlin. Ich bin daher sicher, dass das nicht das letzte Wort sein wird.

Wie würden sich die Pläne der Bundesregierung auf die Klinikstruktur und die Versorgung in Berlin auswirken?

Wir werden sicherlich eine weitere Zentralisierung und die Ersetzung von stationären durch ambulante Behandlungen sehen. Dieser Prozess ist ja bereits seit einigen Jahren im Gang und wird durch die Reform beschleunigt. Und das ist auch gut so!

Ist die Krankenhausplanung durch die Länder jetzt Geschichte?

Das glaube ich nicht. Sie tritt – hoffentlich – in eine neue Phase einer besser abgestimmten Planung nach gemeinsamen Kriterien ein. So verstehe ich den Beschluss von Bund und Ländern aus der vergangenen Woche, sehr schnell einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorzulegen. So etwas geschieht im bundesdeutschen Föderalismus nicht oft und zeigt, wie hoch der Druck ist, nun endlich eine wirksame Reform anzupacken. Denn wenn diese Reform nicht schnell kommt, droht eine ‚kalte‘ Strukturbereinigung durch Insolvenzen vor allem kleiner Krankenhäuser in ländlichen Regionen, die dann schlimmstenfalls die Versorgung wirklich bedroht. Das kann niemand wollen, weder Bund, Länder noch Kommunen, auch nicht die Krankenkassen.

Sind die Krankenhäuser in der Regierungskommission ausreichend vertreten?

Sicherlich nicht, wenn man von der Universitätsmedizin einmal absieht. Umso wichtiger ist, dass die Vorschläge der Kommission jetzt einem Realitätscheck unterzogen werden. Und wer könnte den besser vornehmen als die Praktikerinnen und Praktiker in den Krankenhäusern? Bei einer regional abgestuften Versorgung müssen zwingend auch die Kommunen berücksichtigt werden, die kennen den Bedarf vor Ort im Zweifel am besten.

Notaufnahmen, Geburtshilfen und Kinderkliniken sollen stärker über Pauschalen und nicht über behandelte Fälle finanziert werden. Wie beurteilen Sie diese Initiative?

Das ist der richtige Weg. Bestimmte Strukturen wie Rettungsstellen, Geburtshilfe, Kinderkliniken haben hohe Vorhaltekosten und benötigen eine Grundfinanzierung. Sie müssen dafür bezahlt werden, dass sie da sind, wenn man sie braucht. Hier wird eine reine Finanzierung nach Fallzahlen der Realität nicht gerecht. Gleichzeitig brauchen wir aber auch weiterhin eine Leistungskomponente. Wer mehr leistet, muss auch mehr Geld für seine Leistung bekommen. Nur so wird gewährleistet, dass die Krankenhausträger im Sinne der Patienten weiterhin Leistungen umfassend anbieten und nicht auf ein wirtschaftliches Optimum beschränken.

Herr Lauterbach sagt, er will weniger Ökonomie aber mehr Medizin im Gesundheitswesen. Das klingt erst einmal vernünftig, oder?

Grundsätzlich ja, ist aber auch etwas polemisch verkürzt. Krankenhäuser dienen selbstverständlich zuallererst dem Zweck, Menschen gesund zu machen und gesund zu erhalten und nicht Shareholdern oder Finanzinvestoren die Konten zu füllen. Mein Antrieb als Geschäftsführer eines großen kommunalen Klinikunternehmens ist, eine nicht-monetäre Dividende in Form von guter und immer besser werdender Gesundheitsversorgung für alle anzubieten. Aber dafür muss man mir auch ermöglichen, ein positives Ergebnis zu erwirtschaften. Damit können wir gute Medizin finanzieren, unsere Angestellten und Lieferanten bezahlen und unsere Klinikgebäude unterhalten. Außerdem stehen wir gegenüber der Gemeinschaft der Krankenversicherten und der Steuerzahler in der Pflicht mit deren Geld sorgfältig umzugehen. Die Ökonomie ist also eine notwendige Basis, aber nicht das Ziel des Gesundheitswesens.

Einige Krankenhausträger beklagen, durch die Klinikreform würden leistungsfähige Strukturen, etwa in Spezialfachkliniken, zerschlagen. Die ländliche Versorgung sei gefährdet. Sehen Sie das auch so?

 Hier muss man differenzieren. Bei fortschreitender Spezialisierung ist es sinnvoll, die Qualität der Medizin durch Zentralisierung hochzuhalten. Das kann auch in Fachkliniken geschehen. Es muss nicht alles unter einem Klinikdach angeboten werden. In ländlichen Regionen können die Reformvorschläge dazu beitragen, die Grundversorgung in der Fläche zu sichern. Denn kleine, nicht spezialisierte Kliniken haben heute große Probleme zu überleben. Schauen Sie sich das Sanierungskonzept für das Krankenhaus Spremberg an, das aus der Insolvenz heraus entwickelt wurde. Da finden Sie viele Elemente der Reformkommission bereits vorweggenommen.

Sind die Kliniken Level 1 i der unteren Versorgungsstufe noch Kliniken und gibt es solche in Berlin dann noch?

Die wird es weiterhin geben müssen, um die Versorgung aufrecht zu erhalten. Wir sollten aber aufhören, den Begriff ‚Krankenhaus‘ wörtlich zu verstehen. Das muss nicht immer ein großes Gebäude mit vielen Betten, Geräten und Menschen sein, die dort rund um die Uhr arbeiten. Die Versorgung der Zukunft wird ambulanter und vernetzter und dadurch flexibler und besser auf den Patienten abgestimmt sein. Vivantes nennt sich daher bewusst „Netzwerk für Gesundheit“. Wir denken die Gesundheitsversorgung heute als „Patient Journey“ also als Behandlungspfad, dessen Ziel der gesundete Patient ist. Die Klinik spielt hier immer noch eine wichtige Rolle, steht aber vielleicht nicht mehr so im Mittelpunkt wie früher.

Muss man damit rechnen, dass Krankenhausstandorte in Berlin schließen müssen? Welche Auswirkungen hätte das für die medizinische Versorgung der Berliner?

Wir beobachten bereits heute, dass die unter Corona-Bedingungen gesunkenen Patienten- und Fallzahlen auch nach Ende der Pandemie nicht wieder ansteigen. Praktisch alle Kliniken, in Berlin wie in ganz Deutschland, haben Betten und Stationen stillgelegt. Niemand rechnet damit, dass diese alle wieder in Betrieb gehen werden. Auch ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft durch fortschreitende Ambulantisierung mit weniger Betten eine gleichbleibend gute Versorgung in Berlin leisten können. Die bisherige Plangröße „Bett“ wird in Zukunft durch qualitative, regionalisierte Parameter der Versorgung ersetzt werden. Nordrhein-Westfalen geht mit seiner neuen Krankenhausplanung hier in die richtige Richtung. Unsere Patientinnen und Patienten wollen gesund werden, nicht primär im Krankenhaus liegen. Zumal sie das nicht gesünder macht! Ziel einer guten Krankenhausplanung muss daher der gesunde Mensch sein, nicht das Planbett.

Inwieweit helfen die Reformen der Bundesregierung, den Personalmangel in den Kliniken zu bewältigen?

Mittelfristig kann nur die Ambulantisierung die Lösung bringen. Wir haben mehr Beschäftigte in der Pflege als je zuvor, aber dennoch Personalnot am Bett. Wie kann das sein? In Deutschland werden im Vergleich zu anderen OECD-Ländern zu viele Behandlungen stationär erbracht, die man mindestens genauso gut auch ambulant machen könnte. Dafür beschäftigen wir dann sieben Tage die Woche rund um die Uhr Pflegekräfte, die wir woanders sinnvoller einsetzen könnten. Wenn die Krankenhausreform eine sinnvolle Ambulantisierung bei kostendeckenden Vergütungen ermöglichte, wäre das ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das bereits geltende Gesetz zur Tagesbehandlung wird das in der Praxis nicht leisten, das kann noch nicht das letzte Wort gewesen sein. Ich bin daher gespannt auf die weiteren Vorschläge der Reformkommission zu diesem Thema.

Haben die Tagesbehandlungen denn überhaupt einen praktischen Nutzen für Patienten und Kliniken?

Wir haben die Auswirkungen des neuen Gesetzes zu den Tagesbehandlungen, das seit Jahresanfang gilt, für Vivantes durchgerechnet und sind zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: Schätzungsweise 50 000 Fälle pro Jahr kämen in unseren Krankenhäusern dafür in Frage. Doch diese Behandlungen werden ohnehin bald und teilweise heute schon komplett ambulant durchgeführt, weshalb der Zwischenschritt der Tagesbehandlung kaum tatsächliche Effekte in der Versorgung bringt. Da die Stationen nachts ohnehin schwächer besetzt und die in Frage kommenden Patienten über alle Stationen verteilt sind, würden wir lediglich 90 Vollzeitstellen weniger in der Pflege benötigen. Wir suchen aber heute schon mehr als 1 000 zusätzliche Pflegekräfte. Kosten würden wir nicht sparen, da die Pflege voll refinanziert wird. Wir müssen die Kliniken weiter heizen, belüften, reinigen, Ärzte beschäftigen und der administrative Aufwand wächst sogar, wenn wir Patienten abends entlassen und am nächsten Morgen wiederaufnehmen. Obwohl diese Tagesbehandlung der Klinik keine Kosten erspart, wird sie deutlich geringer vergütet. Diese Rechnung geht also nicht auf. Gleichzeitig brauchen wir eine Alternativlösung im Sinne unserer Patienten, die lieber zu Hause als im Krankenhausbett schlafen. Deshalb müssen wir den Entwurf gemeinsam mit den Praktikern nochmals einer Revision unterziehen.

Was tut Vivantes gegen den Personalmangel und gegen Abteilungsschließungen?

Es gibt tatsächlich Hardliner in der Berliner Krankenhausbewegung, die fordern Stationen oder Abteilungen zu schließen, damit mehr Pflegekräfte pro Bett zur Verfügung stehen. Aber die Versorgung der Bevölkerung einzuschränken, kann nicht die Lösung sein. Wir haben einen Versorgungsauftrag und den nehmen wir ernst. Zudem wären dann auch die Ärzte und Servicekräfte, die für diese Abteilungen arbeiten überflüssig und beschäftigungslos. Wir werben intensiv um neue Pflegekräfte auf dem Arbeitsmarkt und suchen diese auch im Ausland, weil der Arbeitsmarkt in Deutschland leergefegt ist. Wir investieren viel, um unsere Pflegekräfte im Beruf zu halten, indem wir zum Beispiel eine große Zahl flexibler Arbeitszeitmodelle anbieten. Wir bauen zudem unsere Ausbildungskapazitäten weiter aus und planen aktuell mit Hochdruck einen neuen Ausbildungscampus für Gesundheitsberufe, sehr attraktiv auf einem grünen Klinikgelände im zentralen Bezirk Tempelhof gelegen. Der Campus soll in der letzten Ausbaustufe mehr als 3 600 Ausbildungsplätze bieten. Unsere Controlling-Daten zeigen im Übrigen ein überraschendes Bild: Weil wir derzeit immer noch deutlich weniger Patienten behandeln als vor der Pandemie, gleichzeitig aber die Zahl unserer Pflegekräfte leicht gestiegen ist, hat sich das Verhältnis von Pflegekräften zu belegten Betten seit 2019 deutlich verbessert. Es gibt also rechnerisch eine Entlastung für die Pflege. Dennoch klagen viele Pflegekräfte in den Kliniken über Überlastung. Diesen Widerspruch haben wir noch nicht aufklären können.

Wie sieht die wirtschaftliche Lage von Vivantes aus?

Wir bieten flächendeckend für ganz Berlin Gesundheitsversorgung an – auch in Fachgebieten, wo wir nicht kostendeckend arbeiten können. Dazu stehen wir, das ist unser Auftrag als kommunaler Krankenhausträger. Aber das führt dazu, dass wir unter den gegenwärtigen Rahmenbedingen ein strukturelles Defizit erwirtschaften. Unsere Energiekosten könnten sich im Jahr 2023 im Vergleich zu 2021 verdoppeln, das war zumindest die Prognose im vergangenen Herbst. Verbrauchsmaterialien haben sich ebenfalls enorm verteuert. Angesichts der starken Marktschwankungen sind Prognosen derzeit schwierig. Sicher ist aber: Corona-Rettungsschirm und Energiekostenzuschüsse werden diese Kostensteigerungen nicht ausgleichen können. Für 2022 hatten wir ein Defizit von etwas mehr als 100 Mio. € geplant. Wir haben hart daran gearbeitet, das Ergebnis zu verbessern und werden besser als geplant abschneiden. Aber der Jahresabschluss wird gerade erst aufgestellt, dem will ich nicht vorgreifen.

Wenn Sie sich eine Klinikreform wünschen könnten, wie müsste diese aussehen?

Ich wünsche mir ein grundsätzliches Umdenken: Wir sollten wegkommen von der Fixierung auf Strukturen und Kosten und stattdessen alles, was wir tun, am primären Ziel messen: dem gesunden Menschen. Dann bleibt das deutsche Gesundheitssystem weiterhin weltweit spitze.

Das Interview führte Tanja Kotlorz