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Interviews und Meinungen

„Wir brauchen eine evidenzbasierte Krankenhausplanung“


Foto: Photothek SPD-Fraktion im Bundestag

Der Gesundheitsausschuss: Die Neuen

Bei der Bundestagswahl 2021 gewann der Neurochirurg Dr. Christos Pantazis (46) im Wahlkreis Braunschweig mit 36,7 % der Erststimmen das Direktmandat. Zuvor war er von Februar 2013 bis November 2021 Mitglied des Niedersächsischen Landtages und dort ab November 2017 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion.

Dr. Christos Pantazis wuchs als Sohn griechischer Eltern in Seelze bei Hannover auf. Er studierte er in Hannover, Basel und Ioannina Humanmedizin. Von 2004 bis zu seinem Einzug in den Landtag im Jahre 2013 arbeitete er als Arzt in der Neurochirurgischen Klinik am Städtischen Klinikum Braunschweig.

2013 wurde er mit einer Arbeit über die Biokompatibilität penetrierender Mikroelektroden im ZNS am tierexperimentellen Modell unter der Betreuung von Prof. Dr. Madjid Samii, einem der renommiertesten Neurochirurgen weltweit, promoviert.

1998 trat Pantazis in die SPD ein. Von 2001 bis 2004 hatte er einen Sitz im Ortsrat von Seelze inne. 2003 bis 2004 war er stellvertretender Vorsitzender der Jusos in Niedersachsen. Seit 2015 ist Pantazis Vorsitzender der Braunschweiger SPD. Seit November 2017 bis zum Einzug in den Deutschen Bundestag war Pantazis stellvertretender Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion. Im niedersächsischen Landtag war er u.a. Sprecher der SPD-Fraktion für Digitalisierung.

Christos Pantazis ist Vizepräsident des DRK-Landesverbandes Niedersachsen.

Sie sind ein erfahrener Neurochirurg. Das ist ein hochinteressanter Beruf. Was treibt sie in die Politik?

Ich bin viele Jahre im Krankenhaus tätig gewesen und habe die Verwerfungen der Krankenhauspolitik aus erster Hand mitbekommen. Die nicht auskömmliche Finanzierung der Kliniken hat mich immer extrem geärgert. Sowohl von Seiten der Länder, die bei weitem nicht Ihrer Verantwortung für die Investitionsfinanzierung nachkommen, als auch die Verwerfungen und schrittweise Ökonomisierung des Gesundheitssystems nach der Einführung des DRG-Systems treiben mich um: Die Folgen dieser Misere habe ich täglich bei meiner Arbeit gespürt. Das muss sich ändern. Deshalb bin ich in die Politik gegangen.

Wir haben uns viel vorgenommen für die Gesundheitspolitik und für eine Krankenhausreform. Ich finde all das höchst spannend und in sehr froh, im Bundestag all das sozusagen im Auge des Orkans mitzuerleben und mitgestalten zu können.

Aber ich liebe meinen Beruf und vermisse ihn auch. Während meiner Zeit im Landtag Niedersachsen haben ich lange in den Parlamentsferien noch im Klinikum gearbeitet. Als ich stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Landtag wurde war das nicht mehr möglich. Ich habe aber bis heute sehr engen Kontakt zur Neurochirurgischen Klinik des Universitätsklinikums Braunschweig. Ohne die Rückendeckung aus dem Klinikum hätte ich den Weg in die Politik so nicht gehen können.

Was macht Sie als Sozialdemokrat aus?

Meine Eltern sind aus Griechenland nach Deutschland gekommen, ich bin im Arbeitermilieu aufgewachsen und bin der erste in der Familie, der studiert hat. Dass ich da bin, wo ich jetzt bin, ist mir nicht in die Wiege gelegt worden. Ich bin durch die sozialdemokratische Bildungspolitik dorthin gelangt. Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sind für mich sehr wichtig, und meine Eltern haben mir ein starkes Gerechtigkeitsempfinden mit auf den Weg gegeben. Da war für mich der Weg zur Sozialdemokratie nicht weit.

Wie kann die Finanzierung der Krankenhäuser auskömmlich gelingen?

Es geht um die Grundkonzeption der Finanzierung mit Fallpauschalen. Die Einführung der DRG hat dazu geführt, dass sich das Hamsterrad immer schneller dreht: Kliniken müssen immer wieder Fälle generieren, um über die Runden zu kommen. Das darf nicht sein, denn Kliniken gehören in ländlichen Gebieten ebenso wie in Ballungsräumen zur Daseinsvorsorge. Bei der Feuerwehr würde auch niemand auf die Idee kommen, nach Einsatz zu bezahlen. Nach dieser Logik bräuchte die Feuerwehr Pyromanen, die regelmäßig für Einsätze sorgen, damit die Feuerwehren existieren können.

Gerade die Kliniken in der Fläche können sich nicht auskömmlich refinanzieren. Auf der einen Seite kommen die Länder ihren Verpflichtungen nur sehr ungenügend nach, die Investitionsquote ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Entsprechend müssen Klinikleitungen über die Betriebskosten auch Investitionen finanzieren. Um das zu können, blieb den Kliniken oft nur noch, an der Personalschraube zu drehen. Ich kann mich noch gut erinnern: Bei Einführung des DRG-Systems hatten wir nachts auf einer neurochirurgischen Station noch vier Pflegekräfte, jetzt sind es nur noch zwei. Entsprechend hat sich die Arbeit der Beschäftigten im Krankenhaus immer mehr verdichtet und das Problem des Personalmangels noch verschärft.

Auch in meinem Bezirk Braunschweig hat die mangelnde Refinanzierung in der Vergangenheit deutliche Spuren hinterlassen. Einige Krankenhäuser haben es nicht mehr geschafft – dieses sich immer weiter öffnende Delta der Finanzierungslücken zu bewältigen. Mit den entsprechenden Verwerfungen: Patientenströme wurden umgeleitet, die Wege für die Patienten sind länger geworden. Gleichzeitig haben sich gerade private Kliniken auf sehr lohnende Behandlungen und Bereiche konzentriert wie etwa bestimmte Eingriffe in der Neurochirurgie.

Wie können Bereiche wie die Pädiatrie im Fallpauschalensystem auskömmlich finanziert werden?

Um die Geburtshilfe, die Pädiatrie und die Notfallversorgung angemessen und ausreichend zu refinanzieren und sie aus diesem Teufelskreis des Mangels herauszuführen, müssen wir das System durchbrechen: mit erlösunabhängigen Vorhaltepauschalen. Ich bin guter Dinge, dass uns die ersten Schritte auf diesem Wege gelingen werden.

Die Koalition wird, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, kurzfristig eine Kommission einsetzen, die Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung vorlegen wird. Die Kommission wird schon im ersten Halbjahr dieses Jahres ihre Arbeit aufnehmen. Ich bin gespannt darauf, welche Empfehlungen und Leitplanken die Experten vorlegen werden.

Welche Zukunft hat das DRG-System insgesamt?

Das DRG-System ist nicht grundsätzlich schlecht, es setzt aber falsche Anreize, die einer schleichenden Ökonomisierung des Gesundheitssystems Vorschub leisten. Das müssen wir stoppen.

Dabei dürfen wir nicht weiter allein mit Einzelmaßnahmen auf grundlegende Lücken reagieren. Für eine nachhaltige Reform der Krankenhausfinanzierung müssen wir uns erstmal fragen: Wieviel Grund- und Regelversorgung wollen wir, und wieviel ist uns das wert? Wir müssen auch ganz klar definieren: Was ist ein Maximalversorger, was soll und muss die Grund- und Regelversorgung leisten? Hier muss die Krankenhausplanung einfach besser werden. Wir müssen zu einer evidenzbasierten Krankenhausplanung kommen. Es braucht eine Reform auf Landes- und auf Bundesebene, und wir brauchen mehr sektorenübergreifende Versorgung.

Ich setzte große Hoffnungen auf den geplanten Bund-Länder-Pakt, der Reformen auf Bundes- und auf Länderebene voranbringen wird. Positive Ansätze, die diese Hoffnung stützen, sehen wir in meinem Heimatbundesland Niedersachsen, das die Krankenhausfinanzierung bis 2026 massiv anheben will. Dort hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Was die Förderung und Ausgestaltung der Ambulantisierung angeht, bin ich sehr gespannt, was die Hybrid-DRGs uns bringen.

Wie können unterschiedliche Versorgungsstufen sinnvoll im Finanzierungssystem abgebildet werden?

Zur Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung gehören ganz sicher erlösunabhängige Vorhaltepauschalen bei wirklich bedarfsgerechter, auskömmlicher Finanzierung für die Pädiatrie und die Notfallversorgung an den Kliniken. Wir brauchen diese Vorhaltepauschalen, um eine adäquate, hochentwickelte Versorgung auch in der Fläche gewährleisten zu können. Dazu gehört auch eine evidenzbasierte Krankenhausplanung auf Landesebene. In Regionen, wo die demografische Entwicklung voll zuschlägt, können wir eben nicht noch ein Krankenhaus bauen. Bisher war Krankenhausplanung oftmals von politischem Druck getrieben und nicht von evidenten Notwendigkeiten.

Wenn die Versorgung in den Regionen sichern und verbessern wollen, müssen wir die Frage der Erreichbarkeit von Kliniken der unterschiedlichen Versorgungsstufen, spezialisierten Zentren und auch der ambulanten Versorgung einbeziehen – und gleichzeitig eine hohe Versorgungsqualität sicherstellen. Dafür brauchen wir ein differenziertes System erlösunabhängiger Pauschalen, wobei wir unterscheiden zwischen Universitätskliniken und Maximalversorgern und Häusern der Grund- und Regelversorgung.

Das System ist zunehmend hochkomplex. Wie kann es entbürokratisiert werden? Wie können generell die Kliniken von Bürokratie entlastet werden?

Wir müssen uns die DRGs und das Fallpauschalensystem von Grund auf anschauen. Das Ganze wird immer komplexer, noch dazu drohen Abrechnungsprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Kassen. Dieses System bindet enorm viel Arbeitskraft und Zeit im Krankenhaus, die die Pflegekräfte nicht mit dem Patienten, sondern mit der Dokumentation verbringen. Der damit verbundene Bürokratieaufwand frustriert die Mitarbeiter immer mehr. Auch das führt dazu, dass dringend benötigte Pflegekräfte und auch Ärztinnen und Ärzte aus dem Beruf ausscheiden. Der Abbau von Bürokratie muss ein Ziel unserer Krankenhauspolitik sein. Wir müssen das System vereinfachen – aber so, dass es weiterhin den medizinischen Anfordernissen entspricht.

Wird der Bund mehr Einfluss nehmen auf die Krankenhausplanung?

Da dürfen wir uns nichts vormachen: Wenn der Bund Mittel für Investitionen in den Kliniken bereitstellt, wird er früher oder später Einfluss nehmen. Aber wir haben eine duale Krankenhausfinanzierung, die wir nicht ohne weiteres aufbrechen können. Es gibt natürlich auch Widerstände auf Seiten der Bundesländer. Aber seien wir ehrlich: Die Investitionsquoten sind im Laufe der Jahre massiv gesunken. Seit langem schon klagen die Krankenhausträger, insbesondere auch die Kommunen, dass die Länder ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Die Kliniken sind froh, wenn der Bund sich finanziell beteiligt. Man muss sich aber im Klaren sein, dass überall da, wo der Bund sich beteiligt, er auch Mitspracherechte einfordern wird. Wir müssen aber gemeinsam diese Probleme lösen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag einen Bund-Länder-Pakt festgeschrieben, der die Krankenhauspolitik gestalten soll. Eine Expertenkommission soll hierfür Empfehlungen und Leitplanken vorlegen.

Wie steht es um die Digitalisierung der Kliniken in Deutschland? Was bringt der „Digitalisierungs-Booster“ des KHZG?

Die Förderung über das Krankenhauszukunftsgesetz hat die Digitalisierung vorangebracht, aber das reicht noch nicht aus. Die Coronapandemie hat das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Modernisierung in dieser Hinsicht noch einmal gestärkt und die Lücken im gesamten Gesundheitssystem drastisch vor Augen geführt.

Wir sollten die Möglichkeiten der Digitalisierung und der Telemedizin nicht unterschätzen. Darin steckt viel Potenzial zur Entlastung der Beschäftigten in den Kliniken und in unserem Gesundheitssystem insgesamt. Deshalb wird die Digitalisierung auch ein Schwerpunkt unserer Politik sein.

In meinem Bereich, in der Neurochirurgie, ist der Einzug der Technik schon immens vorangekommen in den letzten Jahren. Aber auch hier gibt es noch viel Potenzial, um Fehl- und Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Die Widerstände, die es gibt, müssen wir überwinden, wir müssen Anreize schaffen, sich digital aufzustellen. Ist schon einiges passiert, aber es muss mehr passieren. Deshalb wir die Digitalisierung auch in den kommenden Jahren ein Schwerpunkt der Gesundheitspolitik sein.

Ist Klimaschutz ein wichtiges Thema für die Krankenhäuser?

Das Thema Klimaschutz ist ein sehr wichtiges Thema, denn Kliniken haben einen hohen Energie- und Ressourcenbedarf. Wir müssen aber dringend und mit Priorität den Investitionsstau bekämpfen. Zu den Investitionen, um die es bei den Kliniken geht, kann natürlich auch eine energetische Sanierung gehören. Hierfür könnten vielleicht ressortübergreifend auch andere Quellen der Förderung und Finanzierung nutzen.

Wie kann aus Ihrer Sicht dem Fachkräftemangel begegnet werden?

Auch hier ist der über Jahre sich verstärkende Investitionsstau eine Hauptursache für den Fachkräftemangel. Die Krankenhäuser dürfen nicht mehr gezwungen werden, am Personal zu sparen. Je weniger Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten, desto größer ist die Belastung für jeden Einzelnen. Auch eine Entlastung von Bürokratie gehört dazu, um die Arbeit am Krankenhaus wieder attraktiver zu machen.

Sie sind in Hannover geboren, leben in Braunschweig. Ich frage als Hannoveranerin: 96 oder Eintracht?

Das ist eine heikle Frage. Der Rivalität der beiden niedersächsischen Traditionsvereine muss man mit Humor begegnen, das gelingt leider nicht jedem. Natürlich habe ich viel für Hannover 96 übrig, ich bin in Hannover geboren und aufgewachsen. Aber ich bin von Herzen Fan von Eintracht Braunschweig. Einmal Löwe, immer Löwe. Und meine Einsatzbereitschaft ist groß: Zum Derby im April 2014, als beide Vereine in der 1. Bundesliga spielten, gab es ein Benefizspiel zwischen den Parlamentarischen Gruppen der Eintracht-Anhänger, der „Leinelöwen“, und der Auswahl des Hannover-96-Fans. Bei einem Zweikampf mit dem Ministerpräsidenten Stefan Weil ist meine Achillessehne gerissen. Der Riss ist live in einer Radioübertragung des NDR dokumentiert.

Das Gespräch führte Chefredakteurin Katrin Rüter