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Interviews und Meinungen

Pflege in der Dauerkrise?


In der Adventszeit überschlugen sich erneut die Schlagzeilen zur Situation der Pflege in unserem Lande: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte an, in die Kinderkliniken diejenigen Pflegekräfte zu schicken, die in der Erwachsenenpflege augenscheinlich nicht so dringend gebraucht würden. Diese wahrscheinlich in spätabendlichen Talkshows entwickelte Idee konnte ein wenig verwirren: Kann ein Minister von der Berliner Friedrichsstraße aus Einberufungsbescheide oder Marschbefehle für zivile Truppen in Kraft setzen? Ist ihm die fachliche Eignung der zu verschickenden Pflegekräfte hinreichend bekannt?

Nun sind dies wahrscheinlich nur kleinteilige Einwände aus Sicht der Praxis vor Ort draußen im Lande.

Sehr skeptische Einwände kennzeichneten auch den Beitrag des Autors im Dezember-Heft-2018 zum Pflegepersonalstärkungsgesetz. Dieses wurde mit in sehr großer Koalition durch den Bundestag wenig später auf den Weg gebracht und zum 01. Januar 2020 in Kraft gesetzt. Schon damals benutzte Karl Lauterbach das offenkundig von ihm sehr geschätzte Wort „Entökonomisierung“, die zunächst nur für den Pflegedienst und wie wir wissen seit dem Nikolaustag 2022 auch für das gesamte Krankenhauswesen in Aussicht gestellt wurde. Aktuell ist diese noch nicht gelungen, wie das Rekorddefizit der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2022 zeigt. Dieses wird mit einem der zahlreichen „Wummse“ der Ampelkoalition im Wege von Rekordverschuldungen des Bundes plattgekloppt und damit aus unserem Gegenwartsblickwinkel als Zukunftslast für Kinder und Enkel verbucht, die ja ohnehin Eigentümer stattlicher Sondervermögen geworden sind.

Pflegepersonalstärkungsgesetz: Wie ist der aktuelle Stand?

Die Extrahierung aus dem bewährten und empirisch mit reichlichen Daten fundierten DRG-System gelang durch das InEK zügig und komplikationslos.

Als dann die Krankenhäuser streng das Gesetz befolgten und Kosten des Pflegedienstes reklamierten, war bei der Gesundheitspolitik und den Krankenkassenverbänden naiv anmutende Verwunderung zu registrieren bezüglich des Betrages, der nun höher sein sollte als der vorher ausgegliederte. Aber genau diese Intention hatte das PpSG doch, nämlich mehr Geld für mehr Pflegekräfte bereit zu stellen.

Die ansonsten routinierten Budgetverhandlungen kamen an diesem Punkt tüchtig ins Stocken und sind bis zum heutigen Tage für einige Häuser nicht einmal für das Jahr 2020, für nicht alle für das Jahr 2021 und für noch weniger für das Jahr 2022 erfolgreich beendet worden. Zugleich spricht das Bundesministerium für Gesundheit von der Notwendigkeit prospektiver Budgetverhandlungen, die aus der Logik der Kostenerstattung technisch überhaupt nicht möglich sind.

Geradezu lehrbuchmäßig wurde durch das PpSG ein Konfliktpotenzial installiert, das nicht auf der bösartigen Verhandlungsabsicht der Vertragsparteien beruhte, sondern auf der Fehlkonstruktion des Versuchs einer Vermischung von pauschaliertem Entgeltsystem und Kostenerstattungsmechanismen. Die Verzögerung der Budgetverhandlungen und deren weitgehende Erfolglosigkeit beruht auf dem nur sehr schwer aufhebbaren Widerspruch der Interessenlagen von Vertragsparteien, die die Trennlinie zwischen dem bisherigen DRG-System und dem neuen Pflegebudget durch ihren Verhandlungserfolg markiert sehen möchten. Mit dieser Aufgabe sind die Vertragsparteien letztendlich überfordert, sodass nicht nur die Erfolglosigkeit der Verhandlungen resultiert, sondern auch eine unproduktive Verschlechterung des Verhandlungsklimas, in das Lastenüberwälzungsabsichten und Argwohn eingesickert sind.

Allein die Tatsache, dass mittlerweile für mehrere Budgetjahre eine große Zahl von Krankenhäusern ohne rechtskräftigen Budgetabschluss dasteht, muss als skandalöse Nebenwirkung des PpSG klassifiziert werden. Denn derart hohe Forderungsbestände ohne vorsichtige Rückstellungsbildung abzufedern, grenzt an Bilanzfälschung. Bei den Krankenkassen, die eine überwiegend pagatorische Bilanzpolitik vollziehen, werden unter Umständen milliardenschwere Zahlungsverpflichtungen verschwiegen, die die Finanzlage der gesetzlichen Krankenkassen über das ohnehin vorliegende desaströse Bild hinaus weiter verdunkeln.

Die vom Autor seinerzeit befürchtete Repriminitivisierung der interprofessionellen Arbeitsteilung im Krankenhaus ist bisher nicht eingetreten. Hierfür fehlt schlichtweg das Pflegepersonal, das nach diesen Befürchtungen für weitere Arbeiten, beispielsweise die Hauswirtschaft oder die Materiallogistik eingesetzt werden könnte.

Die ebenfalls befürchtete Entmündigung der Krankenhausleitung als dispositivem Faktor (Gutenberg) für die geschickte Kombination des Einsatzes von Menschen, Maschinen und Material hat gleichwohl tendenziell stattgefunden. Denn statt dem ökonomischen Impetus des DRG-Systems nachzukommen, nämlich zu sozialverträglichen Preisen Krankenhausleistungen bereitzustellen, zwingt das PpSG die Unternehmensleitungen dazu, ihre knappe Zeit für raffinierte Begriffsbestimmungen des Pflegedienstes einzubringen. Filigrane Regelungen der Pflegepersonaluntergrenzenverordnung (PpUGV) werfen nur ein Schlaglicht auf die Grundmisere der massiven volkswirtschaftlichen Fehlallokation durch ein System der Kostenerstattung. Offenkundig nur in Notsituationen wie der Coronapandemie oder nun bei den Kinderkliniken wird die Sinnhaftigkeit derartiger Überregulierungen in Zweifel gezogen - nein, meistens nur temporär ausgesetzt.

Das Signal der Kostenerstattung zeigte am Arbeitsmarkt deutlich schwerwiegendere Auswirkungen als von Kritikern und Skeptikern seinerzeit befürchtet: Die ohnehin bereits bestehende Anspannung, die coronabedingt nicht durch den Luftwaffen- oder Lufthansagestützten Import ausländischer Pflegekräfte abgemildert werden konnte, traf besonders hart die Altenpflege, die nicht so finanzielle und quantitativ kommode Bedingungen des PpSG vorfindet und zudem im Image – völlig unberechtigt – noch mehr zu kämpfen hat als der Krankenhaussektor.

Eine in dieser Dimension ungeahnte – in einigen Regionen beinahe explosionsartige – Entwicklung griff um sich: Eine bisher unbekannt große Zahl von Pflegekräften nahm sich die erfolgreiche Freelancer-Praxis von Ärzten zum Vorbild und stellte ihre Arbeitskraft zu deutlichen erhöhten Preisen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung; flugs unterstützt durch aus dem Boden schießende Vermittlungsagenturen, die man wohlwollend als findige Start ups bezeichnen könnte. Ob der deutliche Anstieg dieser Preise zu einer Erhöhung des Arbeitskraftangebotes führte, kann aktuell noch nicht empirisch belegt werden. Nicht auszuschließen ist, dass die Work-Life-Balance Neigung insbesondere bei jüngeren Mitarbeitern zu einer Reduktion des bereitgestellten Arbeitszeitvolumens führt.

Dass sich das spotmarktgetriebene Unwesen der Freelancer fatal auf die Kultur der Zusammenarbeit und des Betriebsklimas auswirkt, muss erfahrenen Praktikern nicht erläutert werden. Die kurzfristig wirksame Droge Arbeitskraftbereitstellung löst das Verlangen nach weiteren Arbeitskräften aus, beschleunigt die Frustration der Stammbelegschaft, die sehr wohl die Preislagen der Freelancer zu taxieren vermag und bewirkt letztendlich eine Zerstörung genau der intelligenten Kombination und Arbeitsteilung, den gemeinsamen Erfolg, die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und den Zweck eines Unternehmens, nämlich dem Kunden zu dienen und Mitarbeitern eine erfüllende Arbeitszeit zu bescheren. Die im Jahr 2022 feststellbaren Krankheitsquoten im Pflegedienst haben ein Ausmaß erreicht, das nach Abzug der Corona-Infekte (von dem alle Berufsgruppen und alle Wirtschaftszweige betroffen sind) ein signifikant überhöhtes Niveau zeigt, welches auch auf die vorgenannten Zusammenhänge zurückgeführt werden kann.

Was haben wir also erreicht?

Ausweislich der bisher vorliegenden Budgetabschlüsse für das Pflegebudget ist dieses um einen ordentlichen zweistelligen Prozentsatz gestiegen. Diese Zahl kann zunächst als Erfolg gewertet werden, wurde somit doch der Abstand zwischen den Kosten des ärztlichen Dienstes, der seit knapp zehn Jahren den Pflegedienst überholt hatte, etwas gedämpft. Die ursprüngliche Intention des PpSG, die formidable Expansionspolitik des ärztlichen Dienstes – mit Stellenvermehrungen, Verdiensterhöhungen und Arbeitszeitreduktionen – mit großzügigen Zusagen für den Pflegedienst zu beantworten, scheint gelungen zu sein. Aber: Ein nicht unerheblicher Teil dieser Kosten kommt überhaupt nicht den Mitarbeitern der Pflege zugute, sondern wird verbraucht durch Freelancer-Zahlungen, hypertrophen Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand, Fehlallokation von Arbeitskräften sowie eine Erhöhung der Fehlzeitenquote, die zu mehr Arbeitsbelastung der nicht-erkrankten und zur Kostenbelastung der Unternehmen und somit Substanzverzehr angesichts der defizitären Bilanzen führt.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Pflegepersonalstärkungsgesetz nicht erfolgreich ist. Dem sehr hohen Aufwand stehen mäßige Ergebnisse und nicht unbeträchtliche Kollateralschäden gegenüber. Aber wer so scharf kritisiert, muss auch eine alternative Perspektive aufzeigen. Wie kann diese aussehen?

Die erfolgreich deutlich erhöhten Pflegebudgets können in der Summe stehen bleiben und dann nach einem Modus verteilt werden, welcher der seit nunmehr zehn Jahren erfolgreichen Konvergenz Systematik des DRG-Systems entspricht. Für den Pflegeentgeltwert wird ein Mittelwert aller bestehenden Budgetabschlüsse ermittelt und nach einer kurzen Konvergenzphase, die für die Beendigung der zahlreichen noch offenen Budgetverhandlungen genutzt wird, ab dem 01.01.2024 auf Landes- oder Bundesebene umgesetzt. Aktuell dürfte dieser bei gut 200 € liegen. Eine Anpassung analog zur Baserate oder zur Entwicklung der Tarifverträge für den Pflegedienst würde eine übersichtliche und geräuschlose Grundlage für die kommenden Jahre bilden.

Mit einem solchen gegenüber dem Jahr 2019 deutlich erweiterten Finanzrahmen können Krankenhäuser und Pflegekräfte eigenverantwortlich umgehen und die dezentral differierenden und in einzelnen Arbeitsmarktregionen unterschiedliche Anforderungen stellenden Situationen adaptieren. Sie werden sinnvollere, nachhaltigere und weniger konfliktbeladene Lösungen finden als dies bisher unter dem Regime des PpSG möglich ist.

Neben der finanziellen Konsolidierung der gesetzlichen Krankenkassen und auch der Krankenhäuser besteht die wichtigste Aufgabe darin, die in den kommenden Jahren absehbar deutlich knapper werdende Pflegekräfte sinnvoll und sinnreich einzusetzen. Es gilt, das Interesse an diesem erfüllenden Beruf bei jungen Leuten zu wecken und stabil zu halten, die Arbeitsneigung der erfahrenen Kräfte zu erhöhen und in den Unternehmen moderne Organisationsformen zu implementieren, die mehr fantasiereiche Ideen enthalten als das tägliche Ausfüllen von Listen für die PpUGV.

Die bisher noch relativ kurzen aber in jedem Fall schon sehr klar erkennbaren Erfahrungen des Pflegepersonalstärkungsgesetzes bestätigen die Mahnung des Nobelpreisträgers für

 Wirtschaftswissenschaft Friedrich August von Hayek: „Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Unwissenheit ernster nehmen.“

Literatur

  • Georg Rüter, Pflegepersonalstärkungsgesetz – Zu Ende gedacht? Das Krankenhaus 12/2018
  • Georg Rüter, Frank Lillteicher - Pflegepersonalstärkungsgesetz eine Zwischenbilanz Das Krankenhaus  7/2021
  • Friedrich August von Hayek – Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen 1977
  • Thomas Sowell – Wissen und Entscheidungen, Berlin 2021

Anschrift des Verfassers

Georg Rüter, Vorstandsvorsitzender des Zweckverbandes freigemeinnütziger Krankenhäuser Münsterland und Ostwestfalen, Hansestraße 81 48165 Münster