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Thema des Monats

Medizintechnik – Im Gespräch


mit Dr. Meinrad Lugan, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Medizintechnik (BVMed) Dr. Meinrad Lugan und Vorstand der B. Braun Melsungen AG.

Was bedeutet die Corona-Pandemie für die Medizintechnologie?

In der Öffentlichkeit wird oft dargestellt, die MedTech-Branche sei einer der Gewinner der Corona-Pandemie. Dabei wird vor allem an medizinische Schutzausrüstung, Hygieneprodukte oder Beatmungsgeräte gedacht. Aber das ist nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus unserer Branche. In Wahrheit hat COVID-19-Pandemie auch auf die Medizintechnik-Branche dramatische Auswirkungen. Das zeigen die Ergebnisse der BVMed-Herbstumfrage, die wir gerade vorgestellt haben. Die BVMed-Unternehmen erwarten demnach in diesem Jahr einen Umsatzrückgang von durchschnittlich 4,9 % – nach einem Umsatzplus von 3,3 % im Vorjahr. Der Absturz betrifft vor allem kleinere und mittlere Unternehmen, bei denen vereinzelte Umsatzeinbrüche bis 40 % existenzbedrohend sind. Hinzu kommen starke Rückgänge beim für die Branche so lebenswichtigen Export. Und das ist das Stimmungsbild vom Sommer 2020. Wenn die zweite Welle im Herbst/Winter kommen sollte, wird sich das Ergebnis weiter verschlechtern.

Erwarten Sie einen Innovationsschub durch die Förderungen durch das Krankenhauszukunftsgesetz?

Wir hoffen es, befürchten aber, dass aufgrund des immensen Investitionsstaus in den deutschen Kliniken die Mittel erst einmal genutzt werden, um Löcher zu stopfen. Aus unserer Sicht werden Hightech-Medizintechnologien im Gesetz zu wenig berücksichtigt. Bitte nicht missverstehen: Es ist großartig, das für die technische Modernisierung der Kliniken in Deutschland bis zu 4,3 Mrd. € aus Bundes- und Landesmitteln zur Verfügung stehen. Um eine nachhaltige technische und digitale Ausstattung der Krankenhäuser zu verwirklichen, muss aber auch verstärkt in moderne Medizintechnik investiert werden. Für eine umfassende technische und digitale Ausstattung der Krankenhäuser – auch im Kontext einer fortschrittlichen Patientenversorgung – müssen moderne Medizintechnologien, beispielsweise digitale Endgeräte, in besonderem Maße berücksichtigt werden.

Hat die Politik die Branche ausreichend im Fokus?

Da sehen wir eindeutig Verbesserungsbedarf. Ein Beispiel von vielen: Die Mittelstands-Strategie der Bundesregierung erwähnt die Medizintechnik mit keinem Wort. Dabei haben gerade kleine und mittlere MedTech-Unternehmen aktuell sehr stark zu kämpfen. Das liegt zum einen an stetig steigenden regulatorischen Anforderungen beispielsweise aus dem Umweltrecht mit seinen Stoffverboten oder durch die EU-Medizinprodukte-Verordnung MDR. Zum anderen liegt es natürlich an den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Unsere Unternehmen leiden vor allem unter der Verschiebung planbarer Operationen, unter weniger Arztbesuchen und damit auch weniger Verordnungen. Umsatzrückgänge von 30, 40 % sind hier keine Seltenheit – und für KMUs absolut existenzbedrohend. Überbrückungshilfen aus dem 25-Milliarden-Euro-Programm der Bundesregierung gibt es dagegen erst ab 60 % Umsatzrückgang. Das ist aus unserer Sicht zu hoch angesetzt.

Insgesamt werden Beitrag und Bedürfnisse der Medizintechnologie insbesondere von der Wirtschafts- und Forschungspolitik nur ausschnittsweise wahrgenommen. Es fehlt an einer Gesamtstrategie für die Medizintechnik-Branche. Der im Koalitionsvertrag von 2017 vorgesehene Strategieprozess Medizintechnik wurde bislang nicht ausreichend umgesetzt. Wir benötigen eine bessere Verzahnung der Maßnahmen für die Medizinprodukte-Branche mit der Wirtschafts- und Forschungspolitik. Die Ressorts Wirtschaft, Forschung und Gesundheit müssen gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag und der Branche an einem Strang ziehen. Hierzu schlagen wir eine „Initiative MedTech 2030“ vor.

Die Medizintechnik-Branche war im Zuge der Pandemie zeitweilig von Lieferengpässen, sogar von Exportbeschränkungen betroffen. Was bedeutet das für die Zukunft?

Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie komplex die Lieferketten und Produktionsnetzwerke der Medizinprodukte-Branche sind. Kleine Eingriffe haben hier eine große Wirkung.

Die von einzelnen Staaten – auch von Deutschland – verhängten Exportbeschränkungen waren ein großer Fehler. Deutschland ist beispielsweise für viele Produkte der Hauptumschlagplatz für ganz Europa. Viele MedTech-Unternehmen betreiben in Deutschland zentrale Lager. Bei OP-Sets kommt hinzu, dass Teile der Produktion in Deutschland, die Endfertigung aber in Tschechien oder Polen stattfindet. Der freie Warenverkehr ist deshalb essentiell für die Sicherstellung der Versorgung durch Medizinprodukte. Die Regierung hat auf unsere Kritik schnell reagiert, uns zu einem Krisengipfel ins Ministerium eingeladen und die Beschränkungen innerhalb weniger Tage zurückgenommen. Ganz klar: Wir hätten uns gewünscht, unsere Expertise wäre vorher einbezogen worden. Das muss in Zukunft besser werden.

Unsere Lehren und Forderungen aus dieser Erfahrung: Wir müssen auch in Krisenzeiten unbedingt einen weltweiten freien Warenverkehr sicherstellen. Die globalen Lieferketten dürfen nicht durch staatliche Eingriffe unterbrochen werden. Wir brauchen hier gute vertragliche Lösungen und Handelsabkommen. Wir müssen Handelsbarrieren abbauen und Zollverfahren vereinfachen.

Dazu gehört auch, dass wir sehr zeitnah gegenseitige Abkommen mit der Schweiz und Großbritannien abschließen – Märkte, die für uns strategisch sehr wichtig sind.

Sie fordern eine digitale Bestandsplattform versorgungskritischer Medizinprodukte. Können Sie dies erläutern?

Das Bundesgesundheitsministeriums arbeitet aktuell an dem Konzept einer „Nationalen Reserve Gesundheitsschutz“. Hier muss unbedingt die logistische Expertise der MedTech-Branche eingebunden werden. Einen guten Startpunkt hatten wir vor einigen Wochen mit einem Gespräch im Bundesgesundheitsministerium. Wir haben dem Ministerium verdeutlichen können: Zu Beginn der Corona-Krise kam es zu einer Nachfrage-Explosion für einige Medizinprodukte und Pharmazeutika zur Intensivbehandlung. Spontane und multiple Bestellungen führten zu Lieferengpässen.

Zudem kam es zu einer Kettenreaktion durch „protektionistische“ Aktivitäten einiger Staaten. Aber: Für über 80 % aller kritischen Produkte gibt es keinen Mangel, sondern ein Verteilungsproblem.

Unser Lösungsangebot ist eine „Digitale Bestandsplattform Versorgungskritischer Medizinprodukte“. Dafür sehen wir sechs Schritte. Erstens: die Definition kritischer Arznei- und Medizinprodukte. Zweitens: die Ermittlung von Produkten und Rohmaterialien mit fehlender EU-Produktionskapazität. Drittens: die Nutzung eines einheitlichen global eingeführten Produktidentifikationsstandards und Klassifikationsstandards. Viertens: die Festlegung der Teilnehmer an der Bestandsplattform und der Zugänglichkeit. Fünftens: das Aufsetzen eines Pilotprojektes. Und sechstens: eine Strategie zur Vermeidung von außereuropäischen Abhängigkeiten. Wir haben zu diesem Thema mittlerweile eine Industrieallianz aus Pharma und Medtech gebildet, mit der wir in die nächsten Gespräche mit dem Ministerium gehen. Die Industrie muss hier auch weiterhin eingebunden werden. Wir stehen für smarte Lösungen bereit.

Welche Herausforderungen erwarten die Medizintechnik-Branche in Zukunft?

Unsere Herbstumfrage hat gezeigt: Das beherrschende Thema bleibt die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung MDR, deren Geltungsbeginn Corona-bedingt um ein Jahr auf Mai 2021 verschoben wurde. 81 % der befragten BVMed-Unternehmen sehen die zusätzlichen MDR-Anforderungen als größtes Hindernis für die künftige Entwicklung der Medizintechnologie-Branche. Dabei geht es vor allem um die Pflicht zu umfassenden klinischen Daten und um längere Konformitätsbewertungszeiten durch Ressourcendefizite bei den benannten Stellen. Unsere Unternehmen sprechen sich hier insbesondere für eine vereinfachte Neuzertifizierung für bewährte Bestandsprodukte unter der MDR aus. Über ein Drittel der Unternehmen wünscht sich Förderprogramme für KMUs zur Umsetzung der MDR.

Welche Erwartungen haben Sie an die Politik?

Auf europäischer Ebene benötigen wir pragmatische Lösungen, damit alle Produkte nach der EU-Medizinprodukte-Verordnung zertifiziert werden und den Anwendern und Patienten zur Verfügung stehen können.

Auf nationaler Ebene setzt sich die Branche dafür ein, den Produktions- und Forschungsstandort Deutschland zu stärken, indem die mittelständisch geprägte Medizinprodukte-Branche als Leitmarkt und starker Wirtschaftsfaktor anerkannt wird. Wir wollen einen schnellen Innovationszugang für moderne Medizintechnologien sicherstellen, insbesondere auch für digitale Gesundheitsanwendungen. Wir wollen abgestimmte Maßnahmen gegen offensichtliche Defizite in der Versorgung, beispielsweise bei Diabetes, Adipositas oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Moderne medizintechnologische Lösungen sind faszinierend. Wir müssen sie noch besser wertschätzen und Ergebnisse aus Forschung und Entwicklung künftig schneller in die Versorgungspraxis überführen und qualitätsorientiert vergüten.

Der BVMed-Vorstandsvorsitzende Dr. Meinrad Lugan. Foto: BVMed