Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziel, während andere uns helfen diese Website und ihre Erfahrung zu verbessern.

Thema des Monats

KI in der Gesundheitsversorgung: Folgen für Belegschaften und Organisationen


Photo by Rock'n Roll Monkey on Unsplash

Untersuchung zu Folgen der digitalen Transformation

Die digitale Transformation des Gesundheitswesens nimmt an Fahrt auf. Wie ein derart „transformiertes“ Gesundheitssystem aussehen wird, ist bis heute Gegenstand von Prognosen, Versprechen und Spekulationen. Umso mehr, als die Möglichkeiten damit die künftige Rolle von künstlicher Intelligenz (KI) eine zusätzliche Unbekannte darstellt. Vor diesem Hintergrund haben EIT Health und McKinsey (& Company) im März 2020 einen gemeinsamen Bericht zur Rolle der KI bei der bevorstehenden Transformation veröffentlicht. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag auf der Frage, welche Einflüsse KI auf die Beschäftigten und die Organisationen des Gesundheitswesens haben wird.

Die Untersuchung ist eine gemeinsame Arbeit der Unternehmensberatung McKinsey & Company und von EIT-Health. EIT-Health ist die „Wissens- und Innovationsgemeinschaft“ de 2015 von der EU gegründeten Europäischen Innovations- und Technologieinstitutes EIT. Für die Arbeit wurden einerseits Untersuchungen und Analysen der beiden Organisationen herangezogen, die sich mit der Zukunft der Arbeit im Zeitalter von Automatisierung und den Auswirkungen auf das europäische Gesundheitswesens beschäftigen.

Ergänzt wurden diese Erkenntnisse durch Einzelinterviews mit Führungskräften, die über Erfahrungen mit KI oder digitale Gesundheit haben bzw. Führungspositionen im Gesundheitswesen innehaben. Als dritte Quelle diente eine Online-Umfrage, an der sich Angehörige von Gesundheitsberufen, Investoren im Gesundheitswesen, Gründer von KI-Startups und andere Führungskräfte beteiligt haben. Für den praktischen Bezug wurden über 20 heute schon genutzte KI-Anwendungen untersucht und 14 Fallstudien zu solchen Anwendungen analysiert.

Die Untersuchung setzt wachsende Möglichkeiten und die unaufhaltsame Verbreitung von KI voraus und erwartet eine weitgehend demografisch bedingten Veränderung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und der personellen Ressourcen des Gesundheitssystems. Weil der Begriff künstliche Intelligenz bis heute allerdings weder exakt noch einheitlich definiert ist, gehen die Autoren von der Definition des Europäischen Parlaments aus: „KI ist die Fähigkeit eines Computerprogramms, Aufgaben oder Argumentationsprozesse auszuführen, die wir normalerweise mit Intelligenz in einem Menschen verbinden.“ Bei der Beschreibung künftiger Anforderungen und Möglichkeiten der Gesundheitssysteme wird auf Zahlen zum Beispiel der WHO referiert.

Danach wird bis 2050 jeder vierte Mensch in Europa und Nordamerika über 65 Jahre alt sein. Diese oft multimorbide, hoch vulnerable und wenig mobile Bevölkerungsgruppe wird den Behandlungsbedarf prägen. Das führt zu anderen, oft komplexen und vor allem personalintensiven Behandlungsanforderungen, für die mehr Personal und größere Ressourcen gebraucht werden. Berechnungen zufolge ergibt sich für Europa schon im Jahr 2030 ein Bedarf von 18,2 Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen – heute gibt es jedoch erst 8,6 Millionen Krankenschwestern, Hebammen und Gesundheitshelfern.

Die Studie will zeigen, inwieweit KI zu besseren Pflege- und Behandlungsergebnissen führen oder

Produktivität und Effizienz verbessern kann; nicht zuletzt geht es um die Frage, wie ob und wie KI das tägliche Leben von Ärzten im Gesundheitswesen verändern wird. Die Untersuchung konzentriert sich deshalb auf die positiven Auswirkungen von Innovationen und lässt ethische Fragen zum Einsatz von KI und zum Umgang mit KI-bezogenen Risiken außen vor.

Entwicklung in drei Stufen

Die Integration von KI in den klinischen Alltag ist „work in progress“, es wird keinen Big Bang geben, durch den von heute auf morgen alles auf den Kopf gestellt wird. Lösungen würden Schritt für Schritt eingeführt, wobei die Untersuchung sechs Bereiche identifiziert hat, in denen KI – teils schon heute – die Arbeit verändert: Versorgung allgemein, das Management chronischer Erkrankungen, Unterstützung klinischer Entscheidungen, Diagnosetechnologie, Triagen und Diagnosen, auch Selbstmanagement, Prävention und Wellness.

Die Entwicklung in diesen Bereichen verläuft in unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Die im Bericht erwähnte „bionische Bauchspeicheldrüse“ ist Zukunftsmusik; die intelligente App für Nachsorge und Pflege, die Krankenhäuser entlastet, ist prinzipiell schon machbar. Deshalb gehen die Autoren davon aus, das KI in drei Phasen in das Gesundheitssystem einzieht.

In der ersten Phase werden Routineaufgaben vor allem in den Bereichen Verwaltung und Dokumentation übernommen, die Ärzte und Krankenschwester zeitlich enorm belasten, für die sie aber überqualifiziert sind. Zu dieser Phase zählen die Autoren auch die auf große Datenmengen basieren KI-Analyse bildgebender Medizintechnologie.

Für die zweite Phase erwarten die Autoren den systematischen Einsatz telemedizinischer KI-Lösungen, die „den Übergang von der stationären zur häuslichen Pflege unterstützen“ und kürzere Verweildauern im Krankenhaus ermöglichen. Der Einsatz von „Fernüberwachung, KI-gestützten Warnsystemen und virtuellen Assistenten“ würde die Patienten in die Lage versetzen, die Verantwortung für ihre Pflege zunehmend selbst zu übernehmen.

In der dritten Phase sollen KI-Lösungen für die Optimierung und Effizienzsteigerungen in der klinischen Praxis sorgen. Dabei gehe es nicht um eine Substitution ärztlicher Leistungen, sondern die Nutzung von CDS-Tools (Clinical Decision Support), die auf Grundlage klinischer Studien großen Datenmengen Entscheidungshilfen anbieten.

Quantitative Effekte

Das englische NHS geht davon aus, dass in zwei Jahrzehnten für 90 Prozent aller Berufe im Gesundheitssystem digitale Kompetenz notwendig ist. Digitalisierung wird Ärzte nicht ersetzen, aber  das „Tagesgeschäft“ ändern, weil Routinen rationalisiert oder beseitigt würden, auf die heute zwischen 20 und 80 Prozent der Arbeitszeit entfallen. Dazu gehören organisatorische und dokumentarische Tätigkeiten, aber auch die Bewertung der immer größer werdenden Mengen an Untersuchungsdaten - Radiologen könnten schon heute 20 % ihrer Arbeitszeit durch Delegation an AI-Lösungen freimachen.

Allerdings gehen EIT-Health und McKinsey davon aus, dass das Potenzial für Automatisierungen in Gesundheitswesen unter dem anderer Branchen liegt: Bei einer branchenübergreifenden Analyse in verschiedenen EU-Ländern kam heraus, dass bis zu 42 % der gesamten Arbeitszeit - sogar bis zu 58 % bei produzierenden Berufen – auf Tätigkeiten entfällt, die durch intelligente Automatisierung übernommen werden könnten.

Für das Gesundheitswesen wird dieser Wert mit höchstens 30 % beziffert, in absehbarer Zeit realistisch seien 15 %. Danach würden in Europa trotz KI und Automatisierung im Jahr 2030 39 % zusätzlicher Pflegefachkräfte benötigt. Die AHA (American Hospital Association) sieht das ähnlich: Ihr zufolge könnten 33 % der Aufgaben des klinischen Personals durch AI ersetzt werden, bei Angehörigen nicht-medizinischer Berufe im Gesundheitswesen immerhin 40 %.

Qualitative Effekte

KI wird wie die Einführung konventioneller IT-Lösungen die Aktivitäten in den Kliniken verändern. Die Studie betont, dass nicht genau abgegrenzt werden kann, welche Veränderungen ausschließlich auf KI zurückgeführt werden können. Dass Sie für positive Veränderungen sorgen wird, steht für die Autoren außer Frage, auch weil die Praktiker in den Kliniken das ähnlich sehen. Der Bericht zitiert eine Krankenschwester, die sich von „intelligenter Planung und Personaloptimierung durch KI“ eine grundlegende Veränderung ihrer Arbeit verspricht. Das gelte auch für Ärzte und die gesamte Organisation:

Weniger Zeit für Verwaltung, mehr Zeit für die Patientenversorgung

Die Autoren verweisen auf Studien, nach denen Verwaltungsaufgaben bis zu 70 % der Zeit eines Arztes in Anspruch nehmen können und Pflegekräfte nur rund 40 % ihrer Zeit für die direkte oder indirekte Versorgung aufwenden. Diese Situation könnte durch gut konzipierte KI-Lösungen grundlegend verändert werden – zum Wohle der Patienten, für die mehr Zeit zur Verfügung steht, aber auch mit dem Nebeneffekt einer höhere Arbeitszufriedenheit des Pflegepersonals.

KI kann klinische Aktivitäten unterstützen

Durch die Möglichkeiten von KI können auch klinische Aktivitäten nachhaltig verändert werden. Arbeitsintensive Prozesse werden beschleunigt und es werden Informationen generiert, die es erlauben, bessere Behandlungsergebnisse zu erreichen und die Qualität der Versorgung erhöhen. Als Einsatzbereiche werden Diagnostik, Radiologie, Pathologie und Augenheilkunde genannt. Zum Beispiel könnte KI durch „deep learning“ automatisch komplexe Muster in Bilddaten identifiziert werden. Als ein Fernziel definiert der Leiter von GE Healthcare Cardiology Solutions, man wolle „vollständig AI-erweiterte Workflows mit den Behandlungsrichtlinien verknüpfen“, damit sich der Arzt auf die direkte Versorgung der Patienten konzentrieren kann.

Geschwindigkeit und Genauigkeit von Diagnosen werden verbessert

KI soll Ärzte durch Entscheidungshilfen dabei unterstützen, schneller bessere Diagnosen zu stellen und Veränderungen im Gesundheitszustand der Patienten frühzeitig zu erkennen. Schon heute werden so beispielsweise in Dänemark Krankenhauspatienten mit besonderen Risiken und drohenden Komplikationen – etwa Unterernährung, septischer Schock, akutes Atemversagen - automatisch identifiziert; als weiteres Beispiel wird die Erkennung eines Herzstillstands nur auf Grundlage eines Notrufs genannt.

KI verändert die Arbeit der Belegschaften und von Organisationen

Hierzu verweist der Bericht auf eine in den Krankenhäusern des Mount Sinai Health Systems schon eingeführte Lösung: Früher priorisierten Diätassistenten und Ernährungsberater Patienten auf den Stationen anhand von Kriterien wie Alter oder Zustand. Mittlerweile sind KI-basierte Lösungen in die elektronischen Krankenakten integriert. Die Ernährungsberater sehen bei Schichtbeginn auf einem Bildschirm, welche Patienten am wahrscheinlichsten unterernährt sind und schneller versorgt werden sollten; Farbcodes geben Hinweise auf Prioritäten, die aber nicht verbindlich sind. Durch das System bleibt mehr Zeit für die Patienten, weil Datencheck und Entscheidungsfindung viel schneller möglich sind. Ähnliche Lösungen gibt es schon für die Früherkennung von epileptischen Anfällen.

Wissen wird schneller und einfacher verfügbar

Die Informationsmenge in der Medizin wächst in unüberschaubarem Ausmaß. Durch KI könnte die Relevanz von Informationen automatisch erkannt, dem Bedarf entsprechend priorisiert und aufbereitet werden. Der Arzt benötigt keine oder weniger Zeit für die Informationssuche, sondern bekommt die für den Fall relevanten Erkenntnisse mundgerecht geliefert.

Patienten werden „mündiger“, selbständiger und können fernversorgt werden

Die Untersuchung geht davon aus, dass Versorgung künftig wann immer möglich in den häuslichen Bereich verlagert wird. Dazu braucht man gut informiert und in eigener Sache handlungsfähige Patienten, von der Prävention bis zum Selbstmanagement, wobei der Patient immer durch Fernüberwachung mit medizinischen Experten verbunden ist. Schon heute existierende KI-Lösungen ermöglichen dem Bericht zufolge patientenorientierte „E-Triage-Lösungen“: Das System errechnet auf Basis von spezifischer Symptomatik und Grunderkrankungen, welche Handlungs- oder Behandlungsmöglichkeiten angezeigt sind. Auf dieser Grundlage könnten sie zur passenden Versorgungsebene geleitet werden und so insbesondere Primär- und Notfallversorgung entlasten.

KI kommt nicht von selbst

Der Bericht stellt klar, dass die KI-getriebene Transformation nicht „automatisch“ kommt und erfolgreich implementiert wird. Erfolgsentscheidend sei das Zusammenspiel von Finanzierung, Forschung und Organisation. Dabei sehen die Autoren Europa im Wettbewerb vor allem mit den USA und China, wobei Europa zwar gute Chancen habe, aber eben auch Nachhofbedarf.

Geld fließt reichlich, in KI investieren Pharma- und Medizinproduktefirmen genauso wie Technologiekonzerne, Start-ups genauso wie Krankenversicherer. So seien bisher 8,5 Milliarden US-Dollar in die 50 größten Unternehmen im Bereich KI fürs Gesundheitswesen geflossen, wovon die USA am stärksten profitiert habe, während China immerhin begonnen habe, strategisch in KI zu investieren. Die Zahl klinischer Studien zu KI-Anwendungen hat sich in letzter Zeit vervierfacht, hier immerhin hat Europa die USA mittlerweile eingeholt.

Am schnellsten bei der Implementierung von KI-Innovationen sind offenbar die asiatischen Staaten, allen voran China. Dort werden verbraucherorientierte KI-Anwendungen von dortigen Konzernen und spezialisierten Technologieunternehmen angeboten. Beispielhaft sei der Erfolg von Ping An's Good Doctor: Die Online-Plattform für individuelles Gesundheitsmanagement hat mittlerweile über 300 Millionen Benutzer.

Auch in Europa könnte KI die Gesundheitsversorgung tiefgreifend transformieren. Im Vergleich zu Wettbewerbern wie den USA und China, so die Autoren, verfüge Europa über die besondere Stärke der „kollektiven Energie“ unterschiedlicher Länder. Die befragten Fachleute hätten daher zur die Frage, wie die EU regionale und nationale Gesundheitssysteme unterstützen und ergänzen könnten, fünf Aufgaben genannt:

  • Die EU soll definieren, welchen Kernbereich von KI von ihr finanziert werden soll, und sie sollte dafür sorgen, das KI-Lösungen schnell getestet und skaliert eingeführt werden
  • Europa braucht einheitliche Wettbewerbsbedingungen mit gemeinsamen Standards für Daten, Regulierung, Zugang, Datenschutz oder Interoperabilität. Das würde die möglichst große Verarbeitung von Anwendungen wirtschaftlicher machen und das Vertrauen der Benutzer stärken
  • Es sollten in ganz Europa Kompetenzzentren für KI im Gesundheitswesen errichtet bzw. gefördert werden. Das sei nötig, um die geringe Zahl von „KI-Talenten“ optimal einzusetzen.
  • Durch einen schlüssigen und praktikablen Ansatz zum Themenfeld „Datensicherheit und Vertraulichkeit“ würden nicht praktische Hindernisse für Nutzung von KI ausgeräumt - und Europa könnte international die Standards setzen.
  • Förderung der Qualifizierung oder Umschulung von medizinischem Fachpersonal durch europaweite Programme: zwar würden mit KI mehr Nicht-Mediziner in den klinischen Bereich drängen, aber auch medizinische Personal brauche digitales Wissen. Denn die Tätigkeitsprofilewürden sich weit von dem entfernen, was heute Praxis ist. Ärzte müssten neue Rollen übernehmen müssen, auf die sie nicht vorbereitet seien. Künftig seien sie weniger „Orakel“ als Berater“ der KI-begleiteten Patienten. Deshalb würden auch soziale und emotionale Fähigkeiten immer wichtiger - die physischen, sich wiederholenden und auch manche kognitiven Aufgaben würden von intelligenten Maschinen übernommen.

Jörg Meyer