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Thema des Monats

IT und Technik: Intelligent dank Interoperabilität

IT und Technik: Intelligent dank Interoperabilität

Intelligente Algorithmen erobern die Medizin. Chatbots erfassen Beschwerden und geben Diagnosevorschläge, künstliche neuronale Netze erkennen Hautkrebs auf dermatologischen Bildern, Deep-Learning-Algorithmen diagnostizieren pädiatrische Erkrankungen auf Basis elektronischer Gesundheitsakten – oft schon genauso gut wie Ärztinnen und Ärzte. Ist künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin bald selbstverständlich?

Ganz so einfach ist es nicht. Denn um intelligente Algorithmen zu entwickeln, braucht es Daten. Sehr viele Daten. Der oben erwähnte Algorithmus zur Diagnose pädiatrischer Erkrankungen wurde in China auf Daten von über 1,3 Mio. Arztbesuchen entwickelt. Meist sind medizinische Daten jedoch über viele verschiedene Systeme und Institutionen verteilt – Kliniken, Krankenkassen, Arztpraxen, mobile Health-Apps; außerdem liegen die Daten in den unterschiedlichsten Formaten vor – eingescannte Texte, Bilddateien und zahllose Datenformate proprietärer IT-Systeme. Diese Datenhaltung in isolierten und inkompatiblen Systemen erschwert die Verarbeitung medizinischer Daten und die Entwicklung intelligenter Algorithmen. Um die Möglichkeiten von KI und „Big Data“ voll auszuschöpfen, müssen medizinische Daten systemübergreifend verarbeitet werden können. Dies erfordert einheitliche Formate, Schnittstellen und Terminologien – kurz: Interoperabilität.

Interoperabilität ermöglicht den reibungslosen Datenaustausch zwischen verschiedenen IT-Systemen. Dabei wird zwischen syntaktischer und semantischer Interoperabilität unterschieden. Syntaktische Interoperabilität stellt sicher, dass Daten in einem einheitlichen Format zwischen den Systemen übermittelt werden können. In der Medizin zunehmend an Bedeutung gewinnt hier der internationale Standard „Fast Healthcare Interoperability Resources“ (FHIR, gesprochen wie englisch „fire“). In den USA wird FHIR beispielsweise von Apples Health-App verwendet, um elektronische Gesundheitsakten institutionsübergreifend auszutauschen. Und auch in Deutschland ist FHIR auf dem Vormarsch: Im vergangenen Jahr wurde FHIR von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) als einheitliche Schnittstelle für Arzneimittelverordnungssoftware definiert. Der Einsatz solch interoperabler Schnittstellen kann den Austausch und die Verarbeitung medizinischer Daten über System-, Institutions- und Sektorengrenzen hinweg erleichtern.

Neben standardisierten Datenformaten braucht es außerdem semantische Interoperabilität – einheitliche Vokabularien und Terminologien zur eindeutigen Bezeichnung medizinischer Konzepte. Auch hierfür stehen internationale Lösungen zur Verfügung. Eines der umfangreichsten medizinischen Begriffssysteme ist SNOMED CT, das mit über 340 000 medizinischen Konzepten der in Deutschland gängigen ICD-10-Klassifikation (mit etwa 14 000 Konzepten) an Ausdrucksstärke überlegen ist. Für speziellere Anwendungen gibt es ergänzend domänenspezifische Terminologien, wie beispielsweise die „Logical Observation Identifiers Names and Codes“ (LOINC) für Laboranwendungen, die „Identification of Medicinal Products“ (IDMP) für Arzneimittel oder die „Human Phenotype Ontology“ (HPO) für die Repräsentation von Phänotypen.

Wie können solche internationalen Standards und Terminologien nun konkret dabei helfen, die Medizin intelligenter zu machen? Zunächst liefern sie den KI-Entwicklern Daten mit klarer Struktur und eindeutiger Semantik. Dies macht es einfacher, die Daten automatisiert zu verarbeiten, Muster und Trends zu erkennen und akkurate Vorhersagen zu treffen. Eine einheitliche Datenstruktur vereinfacht außerdem nicht nur den Austausch der Daten, sondern auch der KI-Algorithmen selbst: Wenn medizinische Daten internationalen Standards entsprechen, kann ein funktionierender Algorithmus leicht auf ähnliche Kontexte übertragen werden. Eine einmal entwickelte KI-Anwendung könnte damit in Gesundheitsinstitutionen weltweit eingesetzt werden. Umgekehrt könnten Institutionen mit standardisierten Daten in Zukunft aus einer großen Menge intelligenter Algorithmen auswählen – ein deutlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber Institutionen, die wegen unstrukturierter Daten und fehlender Schnittstellen von der neuen KI-Welt abgeschnitten wären.

Auch die medizinische Forschung profitiert von Interoperabilität: Eine einheitliche Datenstruktur und -semantik eröffnet neue Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit und vereinfacht die Nutzung existierender Datenbestände für Forschungszwecke. Dies ist besonders in Forschungsfeldern relevant, in denen Daten aufgrund geringer Patientenzahlen über viele verschiedene Institutionen kombiniert werden müssen, etwa im Bereich der Seltenen Erkrankungen. Auch für die Entwicklung personalisierter Therapien auf dem Gebiet der „Precision Medicine“ sind große Datenmengen erforderlich, die interdisziplinär und institutionsübergreifend ausgewertet werden müssen. Dies funktioniert nur, wenn Daten interoperabel sind. Interoperabilität kann also dazu beitragen, medizinische Daten der Forschung einfacher zugänglich zu machen, und so den Forschungsprozess beschleunigen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse könnten damit schneller in der Versorgung zum Einsatz kommen.

Auch ohne komplizierte KI-Algorithmen macht Interoperabilität die Medizin intelligenter. Denn interoperable Systeme vereinfachen die Kommunikation zwischen Patienten, Ärzten und anderen Leistungserbringern – auch über Landesgrenzen hinweg. Idealerweise sollten in der medizinischen Versorgung alle relevanten Informationen der richtigen Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort vorliegen. Auf den verschlungenen Behandlungspfaden der Patienten durch das Gesundheitswesen – über Arztpraxen, Apotheken, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen – gehen jedoch oft wichtige Informationen verloren, die im schlimmsten Fall die Gesundheit der Patienten gefährden können (beispielsweise durch unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen). Interoperable Schnittstellen können dabei helfen, Kommunikationslücken zu schließen und dadurch entstehende Risiken zu vermeiden.

Egal ob moderne KI-Algorithmen, eine effizientere medizinische Forschung und internationale Vernetzung oder bessere Kommunikationssysteme – Interoperabilität ist Voraussetzung für eine intelligentere Medizin. Wer also die Möglichkeiten digitaler medizinischer Daten voll ausschöpfen will, sollte sich zuerst um interoperable Systeme kümmern. Erst dann können intelligente Akteure – ob künstlich oder natürlich – optimale Entscheidungen treffen und Patienten bestmöglich versorgen.

Anschrift der Verfasser

Prof. Dr. Sylvia Thun, Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen, Hochschule Niederrhein, Charité Visiting Professor und Direktorin der Core Unit „eHealth und Interoperabilität”, Berlin Institute of Health (BIH), sylvia.thun@bihealth.de/Dr. Moritz Lehne, Health Data Scientist, Berlin Institute of Health (BIH), moritz.lehne@bihealth.de