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Interviews und Meinungen

„Erkenntnisse aus der Pandemie nutzen“


Dr. Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der DKG: „Wir erwarten nach der Bundestagswahl eine konstruktive Krankhauspolitik mit einer offen geführten Debatte um die zukünftige Rolle der Krankenhäuser. Der kalte Strukturwandel muss ein Ende haben.“

Interview mit dem neuen Vorstandsvorsitzenden der DKG, Dr. Gerald Gaß

Herr Dr. Gaß, Sie haben das Amt des DKG-Präsidenten auf dem Höhepunkt der Pandemie Ende 2020 beendet. Nun werden Sie als Vorstandsvorsitzender die Krankenhäuser in Deutschland vertreten, am Beginn einer dritten Welle, fürchten viele. Wie ist die Situation in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen?

Ein Blick auf die Inzidenzwerte macht deutlich, dass wir in der dritten Welle sind. Die britische Mutante ist dominant und die Infektiosität dieser Mutante ist deutlich höher als der so genannte Wildtyp. Allerdings muss man die Inzidenzwerte differenzierter betrachten, als es vielfach getan wird. Wir müssen die Inzidenzwerte nach Altersgruppen differenzieren. Gerade die Gruppe der über 80-jährigen, die ein extrem hohes Risiko hat, zu versterben oder einen schweren Verlauf mit intensivmedizinischer Behandlung hat, ist durch die Impfung mittlerweile besser geschützt und die Inzidenz in dieser Gruppe ist deutlich geringer geworden. Trotz allem wissen wir aber auch, dass die britische Mutante schwere Verläufe auch bei jüngeren Menschen verursacht. Dennoch rechnen wir insgesamt damit, dass durch den zunehmenden Impfschutz bei vergleichbaren Inzidenzzahlen die schweren Verläufe weniger häufig sein werden als in der zweiten Welle rund um den Jahreswechsel.

In den Krankenhäusern ist die Belegung der Intensivbetten höher als auf dem höchsten Punkt der ersten Welle, aber deutlich unter der Maximalbelastung, die wir Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres hatten. Gut 3000 mit Covid-19 belegte Intensivbetten sind eine Herausforderung für die Kliniken das sollte man nicht verkennen. Hinzukommt natürlich noch die Covid-Patienten auf den Infektionsstationen. Und wir müssen immer bedenken, dass natürlich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun seit einem Jahr im Pandemiebetrieb sind. Trotzdem:  die Krankenhäuser stehen derzeit nicht vor einer Überlastung. Ich bin sicher wir können den Schutz der Bevölkerung auch in der 3. Welle garantieren.

In welchem Maße gibt es wieder planbare OPs, wie steht es um die Rückkehr zum „normalen“ Behandlungsgeschehen?

Von einem normalen Behandlungsgeschehen sind wir natürlich weit entfernt. Das waren wir aber auch im ganzen Jahr 2020 und werden es auch im ganzen Jahr 2021 bleiben. Wir haben weiterhin die Einschränkung hinsichtlich der Belegungssituationen. Insgesamt haben wir einen deutlichen Fallrückgang von rund 20 %. Und es liegt nicht daran, wie mittlerweile zum Teil von Krankenkassen kolportiert wird, dass nun Leistungen entfielen, weil diese sowieso unnötig gewesen wären. Wenn es nach dieser Logik ginge, dann müssten auch Krebsfrüherkennungsuntersuchungen wohl überflüssig sein, denn auch die sind 2020 in großer Menge nicht durchgeführt worden. Solche Aussagen sind fast schon zynisch, auf jeden Fall offenbaren sie Unkenntnis der Versorgungssituation. Wir haben Menschen die auf planbaren oder verschiebbaren Operationen aus Sorge verzichten und damit eine deutlich eingeschränkte Lebensqualität in Kauf nehmen. Wir haben deutlich weniger Einweisungen. Die erforderlichen Infektionsschutzmaßnahmen in allen Kliniken machen eine volle Belegung wie zu normalen Zeiten unmöglich und es ist auch eine Illusion, zu glauben, dass man die im 1. Halbjahr ausgefallenen Leistungen im 2. Halbjahr einfach so nachholen könnte.

Sind die Kontaktbeschränkungen, die das Bund-Länder-Gremium jüngst beschlossen hat, vertretbar?

Die Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März hat angesichts steigender Inzidenzen mit den nun eingeführten Ruhetagen, also dem härteren Lockdown, über Ostern sogar noch nachgeschärft. Wenn man die zugrunde liegenden Modellrechnungen betrachtet, könnte dies die Fallzahlen signifikant senken. Trotzdem: Wir brauchen auch klügere und kreativere Lösungen als eine reine Lockdown-Strategie. Wir müssen testen, testen, testen, der Schnelltest muss ein wesentlicher Bestandteil des Strategie werden, und wir müssen Impfen, was das Zeug hält. Wir werden die Bürgerinnen und Bürger nur dann dazu bewegen können sich an die Corona-Maßnahmen zu halten, wenn sie auch eine Perspektive sehen. Grundsätzlich gilt: Wir haben nach wie vor die Möglichkeit, einen scharfen Lockdown zu vermeiden. Dies erfordert aber ein höheres Tempo beim Impfen, kluge Teststrategien und die Einhaltung der allgemein bekannten Vorsichtsmaßnahmen durch jeden Einzelnen. Es ist wirklich schwer auszuhalten, dass Länder wie Großbritannien oder die USA beim Impfen so viel mehr Geschwindigkeit auf die Straße bringen. Die europäische Strategie der Impfstoffbeschaffung hat sich ganz offensichtlich nicht bewährt, sonst wären wir jetzt weiter.

Gleichzeitig mit den Lockerungen wurde auch die Weiterführung des Erlösausgleichs für 2021 entsprechend wie 2020 beschlossen. Wie ist die finanzielle Perspektive der Kliniken?

Hinsichtlich der Finanzierung der Krankenhäuser haben wir mit dem Entwurf der Rechtsverordnung, der nun vorliegt und einen Ganzjahreserlösausgleich für 2021 vorsieht, einen wichtigen Baustein die Krankenhäuser erhalten und damit eine gewisse wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit für das Jahr. Aber bei Einzelregelungen sehe ich eindeutig noch Nachbesserungsbedarf. Absolut inakzeptabel ist der vorgesehe Abschlag von 5 % auf die Ausgangsbasis des Jahres 2019. Begründet wird ein solcher Abschlag durch in den letzten Jahren insgesamt sinkende Fallzahlen in der stationären Versorgung. Wenn man sich die Statistik aber genauer anschaut, haben wir aber tatsächlich keinen Fallzahlrückgang. Also 5 % einfach mal abzusenken, wird die meisten Krankenhäuser in Probleme bringen. Wir brauchen jetzt eindeutige und flächendeckend wirksame Instrumente, die nicht ständig nach quälend langen Diskussionen nachjustiert werden müssen.

Wie beurteilen Sie den gesamten Prozess?

Bis Ende September 2020 hatten wir nachvollziehbar differenzierte Ausgleichszahlungen für alle Kliniken mit Belegungsrückgängen. Dieses funktionierende Instrument wurde dann just zum Beginn der 2. Welle ausgesetzt und ab Mitte November durch ein komplexes und absolut lückenhaftes Instrumentarium ersetzt. Ausgleiche wurden an regionale Inzidenzen, Intensivbelegungsquoten und stationäre Notfallstufen gekoppelt, deren Logik niemand mehr erklären konnte, die aber das diffuse politische Bedürfnis nach Zielgenauigkeit befriedigen sollte.

Wie auch bei anderen Themen in der Pandemie hat der Wunsch nach Perfektionismus das eigentliche Ziel, die Kliniken in der Krise handlungsfähig zu machen, gänzlich aus dem Auge verloren. Wir befinden uns mitten in der schwersten Gesundheitskrise seit hundert Jahren und schaffen es nicht, einfache und verständliche Finanzierungsregeln festzulegen.

Auch bei anderen Entscheidungen leisten wir uns ewig lange Diskussionen. Warum kann man nicht einfach die MDK-Prüfungen auf wirklich offensichtliche Fälle begrenzen und die Pflegepersonaluntergrenzen bis zum Ende der Pandemie aussetzen? Wenn wir das irgendwann einmal unseren Enkelkindern erzählen, werden die uns sicher fragen, ob wir denn sonst keine Probleme hatten.

Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz werden den Krankenhäusern mehr als 4 Mrd. € für die Digitalisierung in Aussicht gestellt. Können die Kliniken diese Chance besser nutzen als die Schulen, die die Mittel des „DigitalPakt Schule“ kaum abgerufen hatten? 

Zuerst einmal: Digitalisierung im Krankenhaus ist ein Thema, das uns seit vielen Jahren beschäftigt. Die Pandemie hat uns in allen Bereichen unserer Gesellschaft gezeigt, dass wir deutlichen Nachholbedarf in der Digitalisierung haben auch im Gesundheitswesen. Auch hier ist vieles liegen geblieben, weil wir am liebsten immer gleich perfekte und allumfassende Lösungen kreieren wollen. Und dann wird eben über Jahre hinweg diskutiert. Manchmal muss man auch einfach loslegen und dann entstehen Weiterentwicklungen von alleine. Wahrscheinlich sind die Krankenhäuser im Gesundheitswesen noch mit am weitesten, aber auch wir brauchen mehr Digitalisierung.

Das KHZG bietet hier jetzt einen erheblichen Anreiz, die Digitalisierung in den Krankenhäusern durch finanzielle Förderung zu beschleunigen. Die konkreten – auf Digitalisierung ausgerichteten – Fördertatbestände sind aus unserer Sicht richtig und können Krankenhäuser bei der langfristigen Sicherstellung der Versorgung und Aufrechterhaltung der hohen Versorgungsqualität unterstützen. Die Umsetzung hängt natürlich auch von externen Faktoren ab, teils müssen hier noch entsprechende Lösungen am Markt bereitgestellt werden, teils ist nicht klar, ob die sehr engen zeitlichen Vorgaben bestehenden Rahmenbedingungen, beispielsweise beim Vergaberecht, entgegenstehen. Ich blicke mit Sorge auf die auch hier vielfältigen Vorgaben der Länder. Dies wird die Praxis zeigen und notfalls muss hier auch noch einmal agil nachgesteuert werden. Der Gesetzgeber hat hier teils sehr konkrete Leitplanken gesetzt, die es nun zu beachten gilt.

Wie kann dem Fachkräftemangel begegnet werden?

Der Fachkräftemangel ist sicherlich das Zukunftsthema für alle gesellschaftlichen Bereiche, ob das bei der Polizei oder der Feuerwehr ist – es betrifft natürlich auch das Gesundheitswesen. Die Pandemie hat uns mehr als deutlich vor Augen geführt, dass ohne Personal gar nichts geht. Sie hat auch gezeigt, wie wichtig die Berufe gerade in der Daseinsvorsorge sind und wie wertschätzend wir als Gesellschaft sie betrachten sollten. Und Wertschätzung darf nicht beim Klatschen auf dem Balkon enden, sondern bei Arbeitsbedingungen und auch finanziellen Rahmenbedingungen. Dazu müssen die Krankenhäuser selber einen Beitrag leisten. Wir sind gefragt, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Wir sehen, dass es wieder mehr Menschen gibt, die einen Pflegeberuf ergreifen möchten. Diese Chance, die auch aus der Pandemie entspringt, müssen wir nutzen. Wichtig ist dann aber, dass die Realität der Arbeitswirklichkeit das hält, was wir versprechen.

Auch hier gilt: wir sind überreguliert. Wenn unsere Fachkräfte mehrere Stunden am Tag damit verbringen, Leistungen zu dokumentieren, dann hat das nichts mehr mit einer unbestritten notwendigen Qualitätssicherung zu tun. Mindestens 50 % unserer Dokumentation befriedigt die Kontrollbürokratie im Gesundheitswesen. Das gilt es anzupacken, damit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder mehr Zeit für die Patienten und mehr Freude an der Arbeit haben.

Wie sollte die Finanzierung der Krankenhäuser in der Zukunft aussehen?

Die aufwandsorientierte Pauschalvergütung der Behandlung ist nach wie vor der richtige Weg, der aber nicht ausschließlich die Kosten der Kliniken decken kann. Auch in diesem Gebiet sollten wir Erkenntnisse aus der Pandemie nutzen. Wir brauchen stärkere Elemente der Vorhaltefinanzierung. Wir müssen die Daseinsvorsorge so aufstellen, dass sie immer sichergestellt ist. Die Pandemie hat uns gerade auch in der ersten Welle sehr deutlich gemacht, dass Daseinsvorsorge sich nicht an normalen Zeiten sondern immer an den Notwendigkeiten in Krisenzeiten auszurichten hat. Wir brauchen also eine evolutionäre Entwicklung. Spannend wird sicherlich auch die Debatte um die Investitionsfinanzierung. Ohne ein Zusammenspiel von Bund und Ländern wird es hier keine nachhaltige Lösung geben.

Im Zuge der Pandemie sind die Kliniken wenigstens teilweise von Bürokratieaufwand entlastet worden, auch den MDK-Prüfungen wurden in der Pandemie Grenzen gesetzt. Wird der Trend zur Überregulierung dauerhaft gestoppt?

Leider noch immer ein Dauerthema: Wenn Sie zurückgehen in alte Ausgaben von „das „Krankenhaus“ werden Sie schon in den siebziger Jahren diese Begriffe finden. Seitdem setzt sich der Trend fort: Die Misstrauenskultur, die gerade von den Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern - und das gilt für alle Leistungserbringer - gelebt wird, führt dazu, dass die Dokumentationsaufwände tagtäglich zunehmen. Und dabei werden die Dokumentationspflichten und Qualitätssicherungsmaßnahmen immer mehr zur Strukturpolitik missbraucht. Wir müssen also dahin kommen, dass die Dokumentationspflichten wieder auf ein Mindestmaß zurückgeführt werden  - und zwar auf das Mindestmaß, das wir brauchen, um Qualität zu sichern, um Leistungsansprüche adäquat abbilden zu können und einer guten, sauberen Dokumentation Rechnung zu tragen.

Das ist ein Thema, bei dem ich wirklich Leidenschaft entwickeln kann, weil wir es wirklich auch selbst in der Hand haben, hier etwas zum Positiven zu verändern.

2021 ist ein „Superwahljahr“, auch der Bundestag wird neu gewählt. Was erhoffen Sie sich von der kommenden Bundesregierung?

Wir erwarten nach der Bundestagswahl eine konstruktive Krankhauspolitik mit einer offen geführten Debatte um die zukünftige Rolle der Krankenhäuser. Der kalte Strukturwandel muss ein Ende haben. Aber ich glaube auch, dass das vergangene Jahr viel dazu beigetragen hat, auch in der politischen Debatte die Bedeutung von Krankenhäusern wieder an die erste Stelle zu stellen. Krankenhäuser und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind das Rückgrat der Daseinsvorsorge und der medizinischen Versorgung. Was wir brauchen nach der Wahl, egal welche Farbkonstellation die Regierung am Ende hat, ist eine transparente Diskussion, wie eine Krankenhausstruktur in den nächsten Jahrzehnten aussehen soll. Wir brauchen ein Leitbild für Reformen. Bund und Länder müssen eine klare Zielsetzung haben, und daran müssen sich dann die Rahmenbedingungen messen lassen.

Die Strukturdebatte hat auch angesichts der Corona-Krise nicht gestoppt. Wie sollte eine flächendeckende, moderne medizinische Versorgung in Zukunft aussehen, welche Rolle sollten die Kliniken haben? 

Genau diese Frage ist ja das, was die Bundesregierung zu beantworten hat, die Grundfrage ist: Wollen wir eine gleichwertige medizinische Versorgung in Stadt und Land und überall in dieser Republik. Meine Antwort ist: Ja, die wollen wir. Und dann brauchen wir eben eine klare Zielsetzung, wie wir die Stufungen in den verschiedenen Qualifikations- und Spezialisierungsebenen haben möchten. Und wir müssen auch den Mut haben, über die Sektorengrenzen hinaus zu denken.

Immer öfter wird über die Ambulantisierung stationärer Leistungen gesprochen. In diesem Zusammenhang brauchen wir einen Perspektivwechsel. Wie können wir die ambulanten Potenziale, die Kompetenzen von Kliniken nutzen, auch und insbesondere in Regionen, in denen es keine niedergelassenen Strukturen mehr geben wird aufgrund des demographischen Wandels in der Ärzteschaft? Wir benötigen also die Vision einer gemeinsamen flächendeckenden modernen medizinischen Versorgung für diese gesamte Republik. Wir müssen Kuration und Prävention vernetzen, regionale Verbünde und Kooperationen stärken. Wir müssen eben das Gesamtbild entwerfen. In dem werden die Krankenhäuser, und das hat das letzte Jahr eindrucksvoll gezeigt, eine maßgebliche Rolle spielen.

Wer die Herausforderung einer älter werdenden Gesellschaft im Kontext gleichwertiger Lebensbedingungen in urbanen Zentren und in der Fläche lösen möchte, kommt an Krankenhausstandorten mit einem sektorübergreifenden Behandlungsauftrag nicht vorbei.