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Wenn die Notaufnahme zum Tatort wird


Foto: Shutterstock

Verbale oder körperliche Gewalt gehören für Klinikärzte inzwischen zu ihrem beruflichen Alltag. Das ist ein Ergebnis der erstmals vom Marburger Bund (MB) im Rahmen des MB-Monitors erhobenen Befragung zum Thema Gewalt. Von den etwa 10 000 beim MB gewerkschaftlich organisierten Ärztinnen und Ärzte, die an der Mitgliederbefragung teilnahmen, gaben 45 % an, häufig oder manchmal verbale Gewalt im beruflichen Kontext zu erleben. Nur 11 % verneinten dies. „Eigentlich müssten diese 11 % doch die Mehrheit sein“, kommentierte Dr. Susanne Johna, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes, das Ergebnis. Bei verbaler Gewalt handele es sich um Beschimpfungen und manchmal auch um Gewaltandrohungen, dem das Klinikpersonal ausgesetzt sei. Das Ergebnis spiegele die gesellschaftliche Entwicklung wider, eine „gewisse Enthemmung“ und ein fehlendes Verständnis dafür, dass man selbst nicht immer Vorrang habe bei der medizinischen und pflegerischen Behandlung, sondern das Fachpersonal versorge nach Triage-Kriterien die Behandlungsbedürftigsten zuerst. „Wer zuerst behandelt werden muss, wird behandelt. Und dieses fehlende Verständnis für Wartezeiten hat auch etwas mit den Erwartungshaltungen zu tun und mit dem Wunsch, dass man selbst immer vorgeht“, sagte Johna.

Körperliche Gewalt wie Schläge oder Tritte erlebten 12 % „häufig“ oder „manchmal“. 42 % gaben an, selten körperliche Gewalt in ihrem Arbeitsumfeld zu erleben. Weniger als die Hälfte sagte, dass sie das noch nie erlebt habe. „Das ist gänzlich inakzeptabel“, sagte Johna. „Das führt dazu, dass der Arbeitsplatz ‚Krankenhaus‘ nicht mehr sicher ist.“ Ärzte arbeiteten mit einem Unsicherheitsgefühl in der Klinik. „Das darf so nicht sein und das darf auch so nicht bleiben“, forderte Johna. Sogar Wasserflaschen würden von manchen Patienten als Waffe genutzt. Johna möchte eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber führen, warum Klinikpersonal, das anderen Menschen helfen möchte, solchen Situationen ausgesetzt werde. Zudem plädiert sie dafür, dass vorhandene Gesetze zur Bestrafung von Gewalttätern intensiver angewandt werden müssten. Auch eine Gesetzesverschärfung, wie ursprünglich im September 2024 von der Ampelregierung geplant, sei denkbar.

Von wem geht die Gewalt in Kliniken aus? Hier waren Mehrfachnennungen möglich. 75 % der Klinikärzte erlebten Gewalt durch Patientinnen oder Patienten. 52 % der Befragten sagten, dass sie Gewalt durch Angehörige oder Bekannte der Patienten erfahren würden. Auch das sei „ganz und gar inakzeptabel“, so Johna. 14 % erlebten Gewalt durch Mitarbeiter.

Am häufigsten erlebten Klinikbeschäftigte Gewalt in der Notaufnahme bzw. in der Rettungsstelle (38 %) sowie im sonstigen stationären Bereich (37 %). „Da werden Arbeitsorte manchmal zum Tatort“, so Johna.

41 % der Ärztinnen und Ärzte gaben an, dass Gewalt zugenommen habe. 39 % waren der Meinung, Gewalt habe nicht zugenommen. Auf die Frage, ob es in der Klinik Schutzmaßnahmen gegen Gewalt gebe, verneinten dies 41% der Befragten. 41 % gaben an, dass es am Arbeitsplatz zum Beispiel Sicherheitspersonal, spezielle Schulungen wie Deeskalationstraining etc. gebe. 18 % sagten, sie wüssten nicht, ob ihre Klinik in der Hinsicht Vorsorge für die Belegschaft treffe.

Auf die Frage, ob an der Arbeitsstätte Beschäftigte, die Opfer von Gewalt im beruflichen Kontext wurden, durch geschultes oder von der Klinik vermitteltes Personal unterstützt und betreut würden, bejahten dies lediglich 17 %. Fast die Hälfte wusste auf die Frage keine Antwort. 35 % sagten „nein“. „Jede einzelne Einrichtung muss sich diesem Thema widmen, muss eine Gefährdungsanalyse machen: Wo findet das besonders häufig statt? Wie kann man das Personal schulen?“, appellierte Johna. Durch Sicherheitspersonal könne das Personal geschützt werden. Klinikpersonal indes mit Webcams auszustatten, dem erteilte die 1. Vorsitzende des MB eine Absage. „Wir würden uns wünschen, dass Ärztinnen und Ärzte nicht dauerhaft mit Webcams durch die Gegend laufen.“ Denn unter diesen Bedingungen sei kein unkomplizierter Arzt-Patienten-Kontakt mehr möglich.

Die Studienergebnisse des MB werden von einer aktuellen Umfrage der Ärztekammer Schleswig-Holstein bestätigt, der zufolge es einen Anstieg der Gewalt gegenüber der Ärzteschaft gebe. „Die Ergebnisse haben ein erschreckendes Bild geliefert“, sagte die Vizepräsidentin der Kammer, Doreen Richardt, bei der Vorstellung der Umfrageergebnisse.

Demnach haben 46 % der Teilnehmer angegeben, dass Gewalt gegenüber Ärztinnen und Ärzten in den vergangenen drei Jahren zugenommen hat. Eine Abnahme hat nur 1 % wahrgenommen.

49 % der befragten Medizinerinnen und Mediziner seien bereits persönlich von Gewalt betroffen gewesen. 55 % der Vorfälle betrafen den Angaben zufolge verbale Gewalt, wie Drohungen oder Beleidigungen, in 32 % der Fälle gab es körperliche Angriffe. In jedem dritten Fall wurde die Polizei eingeschaltet.

Folgen für das Arzt-Patienten-Verhältnis

Die Vorfälle hätten teilweise erhebliche Auswirkungen. 15 % der befragten Medizinerinnen und Mediziner litten unter psychischen Folgen wie Schlafstörungen, Albträumen oder Panikattacken, sagte Richardt. 5 % benötigten demnach eine Therapie zur Verarbeitung der Erlebnisse. In 10 % der Fälle führten die Übergriffe zu körperlichen Verletzungen, etwa durch Bisse oder Schnittwunden. „Besonders verheerend ist, dass Gewalttaten das Arzt-Patienten-Verhältnis nachhaltig verändern“, sagte Richardt. So gaben 38 % der befragten Medizinerinnen und Mediziner an, dass ihr Verhalten gegenüber Patienten nach einem Vorfall distanzierter und weniger empathisch geworden sei.

Auch im Norden nennen die befragten Mediziner als Hauptgründe für die gestiegene Gewaltbereitschaft unter anderem eine zunehmende Anspruchshaltung von Patienten, Unzufriedenheit mit der Gesundheitspolitik sowie kulturelle Missverständnisse. Besonders häufig eskaliere die Situation der Umfrage zufolge im Zusammenhang mit der Forderung nach schnellen Terminen, bestimmten Rezepten oder Untersuchungen. Viele Einrichtungen hätten bereits reagiert: Rund die Hälfte der Praxen und Krankenhäuser hat Notfallknöpfe installiert, Fluchtwege angepasst oder Deeskalationstrainings durchgeführt, wie Richardt sagte. Auch Sicherheitsdienste und Hausverbote gehörten zu den Maßnahmen, um das Personal zu schützen. An der Onlinebefragung im Januar hätten rund 1 700 der etwa 15 000 berufstätigen Kammermitglieder teilgenommen.

Dass Beschäftigte von Krankenhäusern immer häufiger von gewalttätigen Übergriffen betroffen sind, das ergab auch eine repräsentative Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Demnach gaben 73 % der Krankenhäuser an, dass die Zahl der Übergriffe in ihren Häusern in den vergangenen fünf Jahren mäßig (53 %) oder deutlich (20 %) gestiegen ist. Nur vier Prozent verzeichneten weniger Gewalt. 80 % der Kliniken gaben an, dass der Pflegedienst weit überwiegend von Gewalt betroffen sei.

Tanja Kotlorz